2. Platz
Paul Heringer, Konrad-Adenauer-Realschule plus mit Fachoberschule Umwelt und Technik, Kl. 10f
Der Ausbruch
Es war ein ganz normaler Morgen. Nichts war anders als sonst auch. Emelys Wecker rappelte ohrenbetäubend laut und wie jeden Morgen musste sie auch heute wieder aufs Neue realisieren, dass das alles nicht nur ein Alptraum war. Enttäuscht drehte sie sich auf die andere Seite und kramte ein kleines, braunes Notizbuch aus ihrem Nachttisch. 1 825 kritzelte sie auf eine freie Seite. Heute war es genau 5 Jahre her ...
Vor 5 Jahren musste sie in dieses beschissene Heim ziehen. Sie wäre viel lieber in ihrer Pflegefamilie geblieben, aber die meinten, sie wäre zu kompliziert und dass sie Angst vor Emely hätten. Dabei hat sie alles, was sie getan hat, nur deshalb getan, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Vielleicht war es ein bisschen übertrieben ihr Lieblingskuscheltier zu zerfetzen, es dann dem Hund in die Schuhe zu schieben und sich anschließend die Tränen von Tabea, ihrer Pflegemutter wegwischen zu lassen. Aber genau danach sehnte sich Emely schon immer so sehr. Nach offenen Armen, die sie festhalten und nach einer Mutter, die sie tröstet.
Eigentlich sollte ihre leibliche Mutter diese Dinge tun und sie hätte es auch mit Sicherheit getan, wenn sie noch leben würde … Warum musste dieser verfluchte Autofahrer auch Alkohol vor der Fahrt trinken? Diese Frage stellt sich Emely jeden Tag, aber eine Antwort darauf wird sie wohl nie bekommen.
Bereits ein paar Tage nach dem Tod ihrer Mutter kam sie dann zu Tabea. Damals war sie erst 6 Jahre alt. Ein Alter, in dem Kinder noch nicht wirklich kompliziert sind. 4 Jahre lang ging auch alles gut. Als sie 10 Jahre alt war, nahm sie viele Dinge mit einem Schlag viel bewusster wahr, zum Beispiel den Tod ihrer Mutter. Am 23.10.2012, dem Todestag ihrer Mutter und zugleich dem Tag, an dem sie ins Heim gebracht wurde, ging sie in den Garten, um wie jedes Jahr ein Geschenk für ihre Mama, die irgendwo da oben ist, zu finden. Und tatsächlich hatte sie schnell eine Idee. Sie sah im Garten einen nagelneuen Gasgrill. Emely konnte sich zwar nicht an all zu viel erinnern, wenn es um ihre Mutter geht, aber dass sie immer gerne gegrillt hatte, wusste sie noch genau. „Wie soll ich den Grill nur nach da oben zu Mama bringen?“, fragte sie sich. Nach mehreren erfolglosen Versuchen den Grill anzuheben, wurde ihr klar, dass sie es niemals schaffen wird, ihn bis nach da oben zu bringen. Da bekam Emely eine andere Idee: „Wenn ich Mama den Grill nicht schenken kann, soll sie wenigstens sehen, dass ich sie nicht vergessen haben.“ Sie holte aus dem Haus ein Feuerzeug, um den Grill anzuzünden. Dass dieser jedoch noch nicht fertig aufgebaut war und dass die Gasflasche nicht auf dem Grill liegen darf, wusste sie nicht. Emely nahm etwas Papier und zündete es an. Dann rannte sie erneut ins Haus, um Holz zu holen. Auf dem Weg rannte ihr kleiner Bruder, der mit ihr in der Pflegefamilie wohnte, an ihr vorbei. „Bleib vom Feuer weg, Tim“, schrie sie ihm noch zu und verschwand im Haus. Sie klemmte sich einige Holzstücke unter den Arm, als sie plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall hörte. Ihre Pflegemutter, die gerade oben die Wäsche zusammenlegte, kam die Treppe runtergerannt und sprintete in den Garten. Das Nächste, was Emely hörte, waren die Schreie ihrer Mutter. Sie ging raus und sah ihren kleinen Bruder blutend und bewusstlos auf dem Boden wimmern. Keine 20 Meter daneben lagen die Überreste des Grills, der explodiert war. Tabea rannte ins Haus und telefonierte. 10 Minuten später kam auch schon ein Krankenwagen, dicht gefolgt von einem Polizeiauto. „Ich will dich nie wieder sehen“, waren die letzten Worte, die Emely von ihrer Pflegemutter hörte, bevor die Polizisten sie in das Auto zerrten.
Und jetzt ist sie hier in diesem kalten Heim. Oder sollte man es doch eher Gefängnis nennen? Schließlich dürfen die Kinder das Heimgelände nicht verlassen. Eine Schule, ein Laden und auch ein Sportplatz befinden sich innerhalb der Mauern, die sich um das große, alte und irgendwie gruselige Gebäude erstrecken. Emely, die noch immer halb am Schlafen war, wurde plötzlich hellhörig. Sie hörte Schritte auf dem Flur. „Scheiße“, schrie sie und versteckte schnell ihr Notizbuch unter dem Kopfkissen. Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihre Jeans und ihren pinken Lieblingspulli. Keine Sekunde zu früh. Die Tür ging auf und eine finster schauende Frau betrat das Zimmer. „Emely Charlotte Steger“, sagte sie mit energischer Stimme, „alle anderen Mädchen sitzen unten am Tisch, nur du nicht. Wie kann es sein, dass du es einfach nicht schaffst, dich an die Regeln hier zu halten? Du solltest dich schämen. Kein Wunder, dass deine Pflegemutter …“. Die schreiende Frau unterbrach abrupt ihre Standpauke, als sie sah, dass Emelys Lippe zu zittern anfing und sich die Augen mit Wasser füllten. Ein leichtes Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Du weißt ja, wer nicht pünktlich am Tisch sitzt, der bekommt auch nichts zu Essen.“ Sie drehte sich um und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Emely ließ sich weinend in ihr Bett fallen und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen.
In ihrem Kopf wiederholten sich ständig dieselben Worte: „Ich muss hier weg.“ Aber wo sollte sie hin? Und wie sollte sie über die hohen Mauern kommen? Sie rappelte sich auf und ging zu den Fenstern auf dem Flur direkt vor ihrer Zimmertür. Die Fenster schnitten sehr ordentlich ein perfekt rechteckiges, perfekt blaues Stück Herbsthimmel aus. Plötzlich packte sie fast körperlich eine Sehnsucht danach, über weite, leere Felder zu laufen und Birnen im Laub rot und gelb gegen genauso einen blauen Himmel leuchten zu sehen. Eine Sehnsucht nach den Gerüchen da draußen und eine Sehnsucht nach Freiheit. Ja, genau das wollte sie. Weg von diesem Gebäude, weg von dieser blöden alten Ziege, weg von den ganzen beschissenen Regeln. Einfach frei sein. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie hier nicht nur weg muss, sondern auch wegkommen wird. Und zwar heute noch. Gepackt von neuer Energie und dem Wunsch nach Freiheit, ging sie zurück in ihr Zimmer. Sie kramte schnell ihre Tasche unter ihrem Bett hervor. „Scheiße, die ist viel zu groß“, fluchte sie und stopfte sie zurück. Sie nahm ihren Schulranzen, kippte ihn aus und fing hektisch an, die wichtigsten Dinge hineinzustopfen: ein Teddybär, eine Kette, T-Shirts, eine Hose und ein Bild von ihr zusammen mit einem alten Mann. Nicht irgendein Mann. Es war Emelys Opa. Der einzige Mensch auf dem gesamten Planeten, dem sie nicht egal war und der Einzige, der sie noch lieb hatte. Früher hat sie viel Zeit mit ihm verbracht. Er hat es immer geschafft, sie zum Lachen zu bringen und in seinen Armen fühlte sie sich einfach schon immer wohl. Auch nach Mamas Tod kam er sie mindestens einmal in der Woche in der Pflegefamilie besuchen. Eigentlich wollte er Emely adoptieren. Jedoch hatte er einige schwere Vorstrafen aus seiner Jugend. Darum weigerte sich das Jugendamt, ihm das Sorgerecht für Emely zu übertragen. Und seit sie in diesem beschissenen Heim war, hat sie ihn gar nicht mehr gesehen, da sie hier keinen Besuch empfangen darf. Schließlich ist sie in einem Heim für „Problemkinder“, wie die blöde alte Ziege immer so gerne betonte. Und das alles nur wegen dieses Unfalls mit dem Grill. Dabei wollte Emely doch niemandem was Böses. Während sie das Bild anstarrte, erinnerte sie sich plötzlich wieder an ein Gespräch mit ihrem Opa. Er hatte damals zu ihr gesagt: „Sobald du 18 bist, kannst du direkt zu mir ziehen. Meine Türen werden immer offen für dich stehen.“ Da grinste Emely. „Immer heißt immer, also auch jetzt“, sagte sie und grinste noch mehr. Jetzt wusste sie, wo sie hingehen konnte.
Noch einmal schaute sie das Bild an und flüsterte ganz leise: „Ich komme Opa“. Dann legte sie das Bild zu den anderen Dingen, verschloss ihren Rucksack und setzte ihn schwungvoll auf. Emely schaute auf die Uhr. Es war halb 8. Die Schule im Heim beginnt um 9. Also hatte sie 1,5 Stunden Zeit, bevor man merken wird, dass sie weg ist. Sie musste sich beeilen. Emely verließ ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie war aufgeregt. Ihre Flucht hatte sie in ihrem Kopf schon tausend Mal durchgespielt und jetzt ist der Tag endlich gekommen. Vorsichtig schlich sie durch den Flur. Sie hörte die anderen Mädchen, die noch am Essen waren, lachen. „Gut, die kommen mir schon mal nicht in die Quere“, sagte sie leise. Am Ende des Flurs blieb sie stehen. Es gab nur einen Weg, um aus den Mauern zu kommen, und zwar das große Tor. Vorsichtig schaute sie aus dem Fenster. Dort war nur ein Wachmann zu sehen. Wie sie den losbekommt, wusste sie genau. Ohne zu zögern, löste sie den Feueralarm aus. Der Wachmann, der sonst eigentlich nie was zu tun hat, sprang erschrocken auf, holte einen Feuerlöscher und verließ seinen Posten. Emely hörte die Mädchen vor Angst schreien und gleichzeitig die alte Frau, die verzweifelt versuchte alle zu beruhigen. Emely lachte kurz, aber dann wurde sie wieder ernst. „Jetzt oder nie“, sagte sie und rannte auf das Tor zu.