Landau liest ein Buch
ein Buch wird zum Stadtgespräch

1. Platz

Patricia Kaiser, Otto-Hahn-Gymnasium, MSS 12

Sonne und Mond

„Ich liebe dich”, war der letzte Satz auf der Abschiedskarte des Quarterbacks Jason, den die Cheerleader-Kapitänin Mandy weinend in der Hand hielt. Tragische Klaviermusik und plötzlicher Regen begleiteten Mandys Geheule, während sie auf dem Boden kauerte. Dunkle Wolken, Krokodilstränen, dramatisches Lasst-mich-in-meiner-Einsamkeit-alleine-Getue. Ich kenne diesen Plot bereits aus anderen Filmen. Unbeeindruckt, aber mit einem gewissen Gefühl von Zufriedenheit, schob ich mir eine Handvoll Chips in den Mund, den Blick auf den hellen Kasten vor mir gerichtet. Es fühlte sich gut an zu wissen, dass Liebe nicht immer gleich Friede-Freude-Eierkuchen war. Sie hatte ihre Schattenseiten und ich war außerordentlich froh, sie nicht erleben zu müssen. Single zu sein brachte sogar viel mehr Vorteile. Ich musste beispielsweise meine Chips nicht teilen.
Demonstrativ griff ich erneut nach der Packung, während ich im Stillen die ganzen Pärchen bemitleidete. Hier hatten sie nämlich ausnahmsweise mal die Arschkarte gezogen. Das schadenfreudige Lächeln auf meinem Gesicht erstarrte aber, als meine Hand nur in einsame Krümel fasste. Die Chipstüte war leer.

Frustriert seufzte ich auf und sah zurück zum Fernseher, aus dem jetzt seltsam fröhlich-kitschige Musik kam. Natürlich. Jason entscheidet sich in letzter Minute um und kehrt zu seiner großen Liebe zurück. Von wegen: „Ich ziehe nach England. Du musst es jetzt ohne mich schaffen.” So ein Mist.
Wütend schnappte ich mir die Fernbedienung und tippte so lange auf ihr herum, bis der schwarze Bildschirm mich von ihrem Anblick befreite. Erleichtert sank ich gegen die Couch. Um mich herum war es bereits etwas dunkler, und als ich nach oben an die Decke blickte, lachte mir kalter Beton entgegen. Dunkel und kalt und leer. Erschöpft schloss ich meine Augen. Das alles hier war Mist. Ich rieb mir über mein Gesicht und setzte mich wieder auf. Ohne den Film war es seltsam leise, alles andere war plötzlich furchtbar laut. Der surrende Kühlschrank, die Autos auf den Straßen, mein Atem, meine Gedanken. Mit einem Schwung war ich auf den Beinen und trat geradewegs in ein dreckiges Shirt, das auf dem Boden siechte. Frustriert trat ich es unter das Sofa. Meine ganze Wohnung sah so aus. Unaufgeräumt und einfach eklig. Es wunderte mich nicht, dass ich letztens Ameisen in der Küche gefunden hatte. Mein Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Es wunderte mich nicht, dass mich niemand wollte.
Um mich abzulenken, stellte ich mich an das Fenster und sah hinaus. Es dämmerte bereits leicht und auf den Straßen sahen die Autos aus wie schwarze, leuchtende Käfer. Erneut seufzte ich. Wie armselig ich doch war. Hier in meiner dreckigen Wohnung und ohne Lebenssinn. Die Autos auf den Straßen hatten wenigstens ein Ziel, genauso wie die Ameisen in meiner Küche, die nach meinem Essen suchten. Mein Ziel war es, durch den Mai zu kommen. Und mein nächstes Ziel, den Juni zu überstehen. Das Fensterglas war kalt, als ich meine Hände darauf ablegte.
Die Sonne hatte heute dennoch wieder ganze Arbeit geleistet und viele Menschen aus ihren Häusern gelockt. Trotz der langsam eintretenden Dämmerung liefen auf dem Bürgersteig noch eine Menge Personen herum, meist in Kleingruppen. Manche saßen auch auf Restaurantterrassen oder plauderten auf Bänken, und wenn ich meine Wange an das kühle Glas legte, konnte ich um die Ecke den Park und die dort spazierenden Menschen sehen.

Der Park. Dort war ich schon lange nicht mehr gewesen. Ich schluckte, während ich noch immer, mit meiner Wange am Fenster, eine Familie beobachtete, die gerade von der Grünfläche zurück auf den Bürgersteig lief. Es war draußen wirklich warm heute. Der Himmel war unbedeckt, sehr wahrscheinlich konnte man in einer halben Stunde bereits die Sterne sehen. Eine Frau kreuzte den Weg der Familie, wich ihr aus und ging weiter. Vielleicht sollte ich heute aus der Wohnung rauskommen? Eine unergründbare Angst schnürte mir plötzlich den Hals zu, das Glas war jetzt viel zu kalt und ich trat einen Schritt zurück. Ich sollte mal raus. Raus in den Park, anstatt auf der Couch dahinzuvegetieren. Warum aber nur hatte ich solche Angst davor?

Noch einen Moment blieb ich so stehen, reglos, versteinert, mit einem Wirrwarr an Gedanken, aber gleichzeitig auch gar nichts denkend. Dann lief ich los, suchte mir meine Schuhe zusammen, fand den Haustürschlüssel in einem Topf in der Küche, öffnete die Tür und trat hinaus. Hinter mir fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss, der im Treppenhaus nachhallte. Ich meinte den Knall wie einen Schuss in meiner Brust spüren zu können und instinktiv wollte ich wieder umkehren und mich in meiner Wohnung auf der Couch vor dem Fernseher verkriechen. Stattdessen verstaute ich den Haustürschlüssel in meiner Hosentasche und stieg die Treppen hinab. Das alte Holz knarzte unter meinen Füßen, doch mit jedem weiteren Schritt schienen die Stufen leiser zu werden. Stattdessen hörte ich jetzt immer deutlicher Gelächter, Gespräche, Gebrumme, Gemurmel. Dort draußen wurde gelebt. Und plötzlich wollte ich auch dort sein.

Am Fuße der Treppe angekommen wischte ich die letzten Zweifel beiseite, griff nach dem Türknauf der Eingangstür und zog sie auf. Sofort kam mir der Wind entgegen und mit dem Wind kam auch die nach Abend duftende Wärme. Gerade als ich losgehen wollte, lief die Familie, die ich bereits aus dem Fenster gesehen hatte, an mir vorbei und ich musste anhalten. Der Vater und die Mutter hielten sich an den Händen, ein kleines Mädchen fuhr vor ihnen mit einem Prinzessinnenroller und zwei ältere Jungs, vielleicht elf und zwölf Jahre alt, sahen auf ein Smartphone und lachten über etwas, das sie sich anschauten, während sie ihren Eltern hinterhertrotteten. Ich sah ihnen nach, bis sie vorbei waren, und als ich auf den Bürgersteig trat, zog es meinen Blick wieder zu dieser Familie. Sie schienen so glücklich zusammen. Wie Jason und Mandy hatten auch der Vater und die Mutter einander gefunden und eine Familie gegründet. Wieder breitete sich eine Enge in meiner Brust aus und mir wurde kalt. Ein Mann mit Kopfhörern lief an mir vorbei und riss mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich noch immer der Familie hinterherstarrte, die nun, in der langsam aufkommenden Dunkelheit, nur noch eine Gruppe schemenhafter Schatten war. Mein Blick wanderte noch einmal kurz zu dem Mann, bevor ich mich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung loslief. Die Umgebung wurde langsam grau, die Bäume, die in regelmäßigen Abständen am Straßenrand wuchsen, verloren allmählich ihre grüne Farbe. Aber auch sonst schienen alle Farben vor der Dunkelheit zu flüchten und vermischten sich in der Luft, die jetzt nach Gras und Fleisch roch. Die Laternen waren noch ausgeschaltet, weshalb auch der Bürgersteig im Schatten lag und nach und nach von der Dunkelheit zersetzt wurde. Viele Menschen kamen mir entgegen, manchmal musste ich ausweichen oder sogar stehen bleiben, um sie vorbeizulassen. Wegen des guten Wetters hatten sie alle den Tag im Park verbracht und traten jetzt ihren Heimweg an.
Obwohl der Weg zum Park höchstens ein paar Minuten dauerte, fühlte es sich doch wie eine lange Zeit an, bis ich vor dem Eingangstor stand. Es war leicht verrostet und Efeu schlang sich um den verschnörkelten Metallbogen. „Park der Liebe“ stand in der Mitte auf einem Schild geschrieben und ich musste den Blick abwenden. Na toll. Nie hatte man seine Ruhe vor all dem Liebeskram. Trotzdem trat ich ein und setzte meinen Weg fort. Ich wusste nicht genau, was ich hier wollte. Vor allem um diese Zeit. Schließlich gab es im Dunkeln wenig von der Natur zu sehen. Das schienen auch Andere so zu empfinden, denn während ich den Kieselsteinweg entlanglief, traf ich auf keinen weiteren Menschen mehr. Und seltsamerweise fühlte ich mich so viel besser, und das, obwohl ich hier jetzt ganz alleine war. Meine Beine trugen mich immer tiefer in den Park, sie schlugen selbstständig Abzweigungen ein und führten mich vorbei an grau-schwarzen Wiesen und Bäumen. Mit der Zeit wurde es immer dunkler, während es in meinem Kopf hingegen immer klarer wurde. Ich fühlte mich seltsam frei und meine Gedanken waren endlich verstummt. Die Natur hatte etwas Friedliches an sich und die Dunkelheit schien dieses Gefühl zu verstärken und auf mich zu übertragen.

Bald kam ich an eine große baumfreie Wiesenfläche. Als ich jünger gewesen war, hatte ich mich hier immer mit Freunden getroffen, weil man viel Platz zum Herumtoben hatte. Damals war ich hier tagsüber gewesen, wenn alles gefüllt mit menschlichem Lachen war. Nachts jedoch wirkte die Grasfläche beinahe gespenstisch, wie auf einem Friedhof. Als ich auf das Gras trat, raschelte es leise. Es fühlte sich seltsam an, wieder hier zu sein. Mit der Dunkelheit, die jetzt vollständig eingetreten war, war es auch kühler geworden. Ich ging in die Hocke und strich über das stachelige Gras. Es war noch warm im Gegensatz zur Luft, und obwohl es piekste, ließ ich mich darauf nieder. Von unten sah die Welt gleich ganz anders aus. Gerade so konnte ich noch den Weg erkennen, von dem ich gekommen war, das schwarze Gras neigte sich leicht in der nächtlichen Brise und dunkle Umrisse deuteten einige Bäume an. Ich seufzte und legte mich auf den Rücken. Das Gras kitzelte an meinen Ohren und an meinen Armen und an meinem Kopf, aber es war kein unangenehmes Kitzeln. Im Gegenteil, es fühlte sich beinahe schon vertraut an. Wie ein Freund, den man nach langer Zeit wiedergefunden hatte. Tiefenentspannt schloss ich meine Augen und konzentrierte mich nur auf das Gefühl, im Gras zu liegen. Ich hörte Blätter im Wind und eine Eule rief in der Ferne und für einen Moment gab ich mich völlig dieser idyllischen Atmosphäre hin. Ich schlug meine Augen auf und sah hinauf. Nein, nicht idyllisch. Eine fast magische Atmosphäre. Der Himmel über mir war schwarz, der Mond über mir sah so aus, als hätte man ein Loch in die Schwärze gestanzt. Wie Feenstaub funkelten mir abertausende Sterne entgegen, die meisten von ihnen vereint in einem der vielen Sternbilder.
Nur der Mond, der Mond mit all seinen Kratern war alleine. Neugierig betrachtete ich seine verletzte Oberfläche. Der Mond war alleine am Nachthimmel und konnte nur durch die Sonne leuchten. Vielleicht war der Mond deshalb so voller Krater? Sein Leben lang wanderte er über den Himmel der Sonne hinterher, damit sie ihn noch mehr beleuchten konnte, damit er noch mehr von ihren Strahlen abbekommen konnte. Dabei war er so fokussiert auf die Sonne, dass der Mond nicht auf sich achtete und sich womöglich nach und nach selbst zerstörte. Vielleicht müsste der Mond einfach probieren, selber zu leuchten, anstatt nach jedem Sonnenstrahl zu betteln? Vielleicht würde der Mond dann irgendwann selbst zu der Sonne werden, die er immer verfolgte. Ein eigenartiges Gefühl blühte plötzlich in meiner Brust auf, das ich in dem Moment noch nicht ganz beschreiben konnte. Aber es war ein schönes Gefühl, also lag ich noch eine ganze Weile so da und dachte über den Mond und über die Sonne und über mich nach.

Der Weg nach Hause war diesmal schneller, die Laternen leuchteten und es lief mir niemand über den Weg. Ich war alleine auf den Straßen und es fühlte sich gut an. Zuhause würdigte ich den Fernseher keines Blickes, stattdessen griff ich nach dem Shirt, das ich vor einigen Stunden unter die Couch gekickt hatte und hob es auf. In den nächsten Stunden arbeitete ich daran, meine Wohnung wieder herzurichten und all das Chaos zu beseitigen. Ich entsorgte alle Chipstüten, räumte die Küche auf, saugte und wischte die Böden, während ich immer wieder aus dem Fenster die Wanderung des Mondes über den Himmel verfolgte. Gegen fünf Uhr morgens war ich fertig. Gegen fünf Uhr fünf schlürfte ich bereits an meinem Kaffee auf dem Balkon. Der Mond war fast nicht mehr zu sehen und ich bemitleidete ihn fast. Der Mond würde vermutlich nie zur Sonne werden und doch war heute Nacht jemand Anderes der Sonne etwas näher gekommen. Müde, aber zufrieden sah ich in den Himmel. Aus dem Augenwinkel konnte ich den „Park der Liebe“ sehen und fand den Namen plötzlich sehr passend. Und so wartete ich alleine auf den Sonnenaufgang.