Landau liest ein Buch
ein Buch wird zum Stadtgespräch

Luisa Eiswirth, Landau

Vogelgezwitscher und Bienenstich

„Wilhelmine, wach auf.“ Wilhelmine schreckte auf. Frau Biber stand vor ihr und alle in der Klasse starrten sie an. „Wir haben schon darüber gesprochen: In der Schule wird nicht geschlafen.“ Frau Biber ging neben ihr in die Hocke und strich ihr sanft über den Rücken. Sie redete jetzt im Flüsterton. „Komm bitte nach der Schule nochmal zu mir nach vorne, ja?“ Wilhelmine nickte. Nicht aber weil sie einverstanden war, sondern weil sie wollte, dass die anderen aufhörten sie anzustarren. Frau Biber stand wieder an der Tafel und hängte einige Mathematikaufgaben für ihre dritte Klasse an die Tafel, die sie rechnen sollten. Wilhelmine öffnete ihr Mäppchen, doch darin lag außer einem winzigen Radiergummi und einem ausgetrockneten Filzstift nur ein zerbrochener Bleistift, der gestern während eines Diktats kaputtging. Also legte sie wieder den Kopf auf den Tisch und schaute aus dem Fenster in den Himmel, an dem Vögel in Richtung Sonne flogen.

„Letzte Woche hast du mir versprochen, es sei das letzte Mal, dass du im Unterricht einschläfst“, sagte Frau Biber und schob ihre Brille zurecht. Wilhelmine mochte Frau Biber, weil sie noch nie so richtig mit ihr geschimpft hatte, immer nur ein bisschen. Aber jetzt befürchtete Wilhelmine das Schlimmste. „Und wir haben abgemacht, dass wir deine Mama zu einem Termin einladen müssen, wenn es nochmal passiert.“ Wilhelmine schluckte. Sie erinnerte sich genau an die Worte von Frau Biber.
„Meine Mama muss viel arbeiten, sie hat sicher keine Zeit für einen Termin“, sagte Wilhelmine, doch sie sah schon am Blick von Frau Biber, dass sie keine Widerrede duldete. „Wir finden sicher einen Termin. Schau mal, in diesem Brief kann sie sogar selbst einen vorschlagen.“ Frau Biber reichte ihr einen gefalteten Zettel, den sie in ihren Rucksack stecken sollte. „Bring ihn morgen bitte wieder mit und mach dir keine Sorgen, Wilhelmine. Das wird kein schlimmes Gespräch“, sagte Frau Biber und lächelte freundlich.
„Danke“, sagte sie, obwohl sie es nicht so meinte.

Der Weg nach Hause fühlte sich heute besonders lange an. Wilhelmine kickte einen kleinen Stein vor sich her, bis sie ihn aus Versehen in einen Gulli kickte.
Je näher sie zu dem grauen Hochhaus kam, desto schwerer fühlte sich ihr Rucksack an.
„Guten Tag, Wilhelmine“, rief eine vertraute Stimme. Frau Kovobulus saß mit einer Zeitung in der Hand auf ihrer Bank. Wilhelmine wusste, dass die Bank nicht wirklich Frau Kovobulus gehörte, aber sie sagte immer ‚Komm, setz dich zu mir auf meine Bank‘. „Komm, setz dich zu mir auf meine Bank“, sagte Frau Kovobulus, als Wilhelmine vor ihr stand. Dabei tätschelte sie mit ihrer faltigen Hand auf den freien Platz neben sich. Gerne wäre Wilhelmine bei ihr geblieben, doch sie musste sich etwas einfallen lassen, wegen dem Brief in ihrem Rucksack.
„Heute kann ich leider nicht“, sagte sie und wand ihren Blick von der Tüte mit den Karamellbonbons ab, die aus Frau Kovobulus´ Tasche guckte.
Frau Kovobulus nickte.
„Dann ein anderes Mal“, sagte sie und winkte Wilhelmine nach, als sie sich den Türen vom Hochhaus näherte. Wilhelmine glaubte, dass Frau Kovobulus auch dort wohnte, doch sie sah sie immer nur draußen auf ihrer Bank. Die Tür klemmte und Wilhelmine musste sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegenstemmen, sodass sie fast in den Hausflur fiel, als die Tür endlich nachgab. Der Aufzug funktionierte zwar wieder, aber heute wollte sie lieber laufen. Je länger der Brief aus der Wohnung blieb, umso besser. Leise schloss sie die Haustür auf und sie roch bereits, dass es Mama heute nicht gut ging. Sie zog die Schuhe aus und hängte die Jacke auf. Auf Zehenspitzen schlich sie an dem Schlafzimmer von Mama vorbei in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank, obwohl sie eigentlich wusste, dass nichts außer einer angefangenen Packung Milch, Bier und Wein darin war. Wilhelmine nahm die Milch heraus, holte eine Schale, füllte sie mit Cornflakes und kippte den Rest Milch darüber. Mit der Schale und einem Löffel in der Hand schlich sie weiter in ihr Zimmer. Das Fenster war weit geöffnet, wie sie es jeden Morgen öffnete. Sie mochte die frische Luft von draußen, die sonst nirgendwo in der Wohnung war, da Mama immer fror. Vor ihrem Fenster stand eine so große Tanne, dass sie sogar bis zum 9. Stock reichte. Dadurch war es in ihrem Zimmer immer etwas dunkel, aber das machte ihr nichts, weil sie dafür die Vögel in der Tanne besonders laut zwitschern hören konnte. Manchmal wünschte sich Wilhelmine auch ein Vogel zu sein, der in der Tanne sitzt und zur Sonne flog, wenn ihm kalt war.
Wilhelmine dachte den ganzen Nachmittag darüber nach, was sie mit dem Brief tun sollte. Zerreißen war keine Option, Frau Biber würde böse werden und ihr einfach einen neuen Brief geben. Sie könnte ihn wirklich Mama geben. Aber eigentlich wusste sie, dass das auch keine Möglichkeit war. Mama würde nicht zu diesem Termin gehen, entweder weil sie ihn vergaß, so wie sie auch das Einkaufen vergaß. Oder weil es ihr so schlecht ging, dass sie wieder den ganzen Tag verschlief. Sie könnte morgen auch krank sein und nicht in die Schule gehen, aber dann würde Frau Biber den Brief an einem anderen Tagen haben wollen. Die einzige Möglichkeit war, gar nicht mehr in die Schule zu gehen. Aber was sollte sie stattdessen machen, sie war ja erst acht und Wilhelmine glaubte nicht, dass Achtjährige schon arbeiten durften. Die Tanne vor ihrem Fenster rauschte und ein kalter Luftzug ließ Wilhelmine zittern. Plötzlich fiel es ihr ein: Sie würde es machen wie die Vögel und zur Sonne fliegen. Natürlich wusste sie, dass sie nicht wirklich fliegen konnte, aber dann würde sie eben zur Sonne laufen, wie lange würde das schon dauern? Lange genug, damit der Brief in Vergessenheit geraten war.

Wilhelmine schlief nicht. Mama war aufgewacht und lief durch die Wohnung. Es klirrte und Mama fluchte. Da begann der Fernseher zu dröhnen und Wilhelmine legte sich nicht wie sonst das Kissen über die Ohren. Heute wollte sie nicht schlafen, sie durfte den Moment nicht verpassen, wenn der Himmel langsam heller wurde, denn dann wollte sie aufbrechen.

So früh war Wilhelmine noch nie draußen gewesen. Es waren noch Sterne am Himmel, aber am Horizont war bereits ein heller Streifen zu sehen. Unter den Straßenlaternen lief sie die Straße entlang. Nicht nach rechts, wie sie es immer tat, sondern nach links.
„Jetzt lebe ich schon acht Jahre hier und bin immer nur in die gleiche Richtung gegangen“, wunderte sie sich und beschloss, dass sie öfter in Richtungen gehen wollte, in die sie sonst nicht ging, denn der Weg links war viel schöner als der rechte.
Er führte schneller weg von den Hochhäusern und bald fand sich Wilhelmine auf einem Feldweg außerhalb der Stadt, und wenn sie jemand gefragt hätte, woher sie gekommen war, hätte sie es nicht mehr gewusst. Aber in diesem Moment war ihr das egal. Sie wollte sowieso nicht wieder zurück. Die Sonne wärmte ihre Haut. Wilhelmine dachte, dass es dann wohl nicht mehr weit sein konnte, und beschloss eine Pause zu machen.
Sie setzte sich unter einen großen Apfelbaum und untersuchte die runtergefallenen Äpfel auf Löcher oder faule Stellen. Als sie endlich einen fand, der nicht angefressen oder faul war, biss sie ein großes Stück davon ab. Bis vor einem Jahr hatte Wilhelmine noch keinen Apfel gegessen. Mama hatte nie einen gekauft. Aber als Frau Biber mit der grünen Kiste in den Klassenraum spaziert kam, sie auf ihr Pult stellte und verkündete, dass es von nun an Schulobst gab, war ein sehr schöner Tag für Wilhelmine. Und am liebsten mochte sie die Äpfel.
Etwas Nasses in ihrem Gesicht ließ Wilhelmine aufschrecken. Ein Hund stand über ihr und wedelte mit dem Schwanz.
„Ole, hierher sofort“, hörte Wilhelmine eine Stimme von weit weg rufen. Ole winselte kurz, schaute sie an, als ob er überlegen würde, drehte sich dann aber um und rannte fort.
Wilhelmine setzte sich auf. Sie war wohl im Gras eingeschlafen. Ihr Bauch knurrte und sie suchte nach einem weiteren Apfel auf dem Boden. Gerade als sie einen aufheben wollte, stand Ole wieder neben ihr. Wilhelmine legte ihre Hand sanft auf seinen großen braunen Kopf und schaute sich um. Ein älterer Mann kam mit schnellen Schritten auf sie zugelaufen. Er winkte und Wilhelmine winkte zurück. Ole setzte sich neben sie und Wilhelmine streichelte ihm über das stumpfe Fell. Gemeinsam warteten sie auf den älteren Mann.
„Hallo“, sagte er, als er bei dem Apfelbaum ankam. Sein Gesicht war rot und glänzte vor Schweiß, sein Atem ging stoßweise. Er stütze sich an dem dicken Stamm und setzte sich ebenfalls ins Gras. Wilhelmine hielt ihm den Apfel entgegen, er nahm ihn und biss augenblicklich hinein. Schweigend saßen sie im Gras unter dem Baum. Wilhelmine, Ole und der Mann. Nur sein Kauen und das Zwitschern der Vögel waren zu hören. „Ich bin Walter. Und du?“, fragte Walter nachdem er den Apfel ganz aufgegessen hatte, sogar mit den Kernen, und er streckte ihr die Hand entgegen.
„Wilhelmine“, sagte Wilhelmine und schüttelte seine Hand, die sich warm anfühlte. „Bist du ganz alleine hier?“, fragte Walter. Wilhelmine nickte und graulte beruhigend Oles Fell. „Musst du heute denn nicht in die Schule?“, fragte Walter weiter. Wilhelmine wurde rot. Walter schmunzelte. „Als ich so alt war wie du, da bin ich auch einmal nicht in die Schule gegangen. Es gab einen Jungen, der mir jeden Tag mein Pausenbrot weggenommen hat. Und an dem Tag war mein Geburtstag und da hat mir meine Mama immer ein paar Kekse anstatt Brot eingepackt. Weil ich nicht wollte, dass mir der Junge an meinem Geburtstag die Kekse klaut, habe ich damals entschieden nicht in die Schule zu gehen.“ Wilhelmine musste lachen. Walter lachte auch.
„Und was ist dann passiert?“, fragte Wilhelmine, als sie vor Lachen schon Tränen in den Augen hatte. „Ich bin in den Park gegangen und habe alle Kekse auf einmal gegessen. Und dann habe ich solche Bauchschmerzen bekommen, dass ich nach Hause gegangen bin und mittags nicht mal mehr ein Stück von Mamas Kirschkuchen essen konnte, den sie extra für mich gebacken hatte.“ Wilhelmine dachte an den kleinen Walter, die Kekse und seine Mama, die einen Kuchen für ihn gebacken hatte.
„Komm doch mit Ole und mir nach Hause. Meine Frau backt auch sehr leckeren Kuchen. Und auf dem Weg kannst du mir erzählen, wieso du heute nicht in die Schule gegangen bist“, sagte Walter freundlich lächelnd und Wilhelmine nickte, weil ihre Mama noch nie einen Kuchen für sie gebacken hatte.

Das Haus von Walter und seiner Frau war viel kleiner als das Haus, in dem Wilhelmine wohnte, aber dafür hatten sie es ganz für sich alleine und das fand Wilhelmine toll. Sie hatte Walter erzählt, warum sie heute nicht in die Schule gegangen war und er fand es gar nicht schlimm. Walter hat es dann seiner Frau, die Anni heißt, erzählt und dann haben sie zu dritt Kuchen gegessen. Es gab Bienenstich. Am liebsten hätte Wilhelmine noch ein Stück gegessen, aber sie traute sich nicht zu fragen.
Als es gerade dunkel wurde, sagte Walter, dass es jetzt Zeit wäre nach Hause zu fahren, und obwohl Wilhelmine gerne noch länger bei Walter und Anni geblieben wäre, nickte sie stumm, denn sie war müde.
Walter hielt vor dem großen grauen Haus an. Einen Moment lang schwiegen sie beide, dann reichte Walter ihr ein Paket in silberner Folie.
„Anni hat dir ein Stück Kuchen eingepackt. Und wenn du mal wieder mit Ole und mir spazieren gehen möchtest, dann kannst du einfach anrufen“, sagte Walter und legte auf die Silberfolie noch einen Zettel, auf dem ordentlich eine Telefonnummer stand. „Und gib deiner Mama den Brief. Was soll schon passieren?“, fragte Walter, lächelte sie aufmunternd an und Wilhelmine fragte sich, ob er vielleicht recht haben könnte.
„Danke“, sagte Wilhelmine und sie meinte es auch so, als sie aus Walters Auto stieg und zum Abschied winkte. Vorsichtig steckte sie den Zettel in ihre Hosentasche und um den Kuchen legte sie schützend ihre Hände. Sie wollte ihn morgen mit Frau Kovobulus auf ihrer Bank teilen, sie hatte bestimmt auch noch keinen Bienenstich gegessen.