Annika Reinhardt, Landau
Verblasste Erinnerungen (nußdorferweinfest)
Sonnenlicht durchflutet den Raum. Schläfrig blinzelst du und versuchst es dir noch einen kurzen Moment gemütlich zu machen. Aber unmöglich. Der kalte Untergrund und die dünne Decke, die schon beim bloßen Anfassen zu zerreißen droht, zwingen dich, dem Tag ins Auge zu blicken. Ein wichtiger Tag, ein einschneidender Tag. Langsam erhebst du dich, schlägst die Decke zurück und stehst mit wackligen Knien auf. Du hattest dir den Moment anders vorgestellt. Du hast so lange darauf gewartet, Monate, Jahre, und jetzt wo der Moment da ist, fühlt es sich unwirklich an. Die sanften Sonnenstrahlen stehen im scharfen Kontrast zu den unbarmherzigen Gitterstäben, die dich von der Außenwelt trennen. Trennen, wegsperren oder – beschützen? Ein lautes Klopfen reißt dich aus deinen Gedanken: Frühstück. Doch du hast keinen Hunger. Du willst keine Sekunde länger als nötig hier bleiben. Morgen früh, haben sie dir gestern gesagt. Wann genau, das wollte dir keiner verraten. Aber viel zu packen hast du sowieso nicht. Du durftest ja kaum Gegenstände bei dir haben, nur die Sachen, die du ganz zu Beginn, vor sieben Jahren, abgegeben hattest, die wirst du am Ende noch ausgehändigt bekommen. Dir graut vor dem Augenblick, in dem du einen Teil deines alten Lebens in die Hände gelegt bekommen wirst. Ein Leben, das nie wieder so sein wird. Wie sehr du es dir auch wünschst, es ist für immer Vergangenheit. Du spürst einen Stich in deinem Herzen, als ein Bild in deinem geistigen Auge auftaucht. Schnell versuchst du es dir aus dem Kopf zu streichen und beginnst deine kleine Morgenroutine. Eine armselige, aber sie war es, die dich am Leben gehalten hat. So hattest du etwas, wozu es sich gelohnt hat, aufzustehen. Weiterzumachen. Zu leben. Die Bewegung tut dir gut. Hält dich fit. Du zählst immer mit. Du hast keine Uhr, deshalb zählst du, wie lange du die Übungen durchführst. Aber es ist nicht nur das Zählen der Übungen. Es ist auch das Zählen der Sekunden, die du erneut in dieser Zelle überlebt hast. Gerne wärst du stolz auf dich, aber sobald du in den Spiegel schaust, zerbricht der Stolz in tausend Teile. Du hast nicht oft die Möglichkeit, in den Spiegel zu schauen, doch darüber bist du froh. Dir blickt ein Mensch entgegen, den du nicht wiedererkennst. Erneut ein Klopfen an der Tür, wieder bist du zusammengezuckt. Bevor du an diesen Ort kamst, konnte dich kein Geräusch der Welt zusammenzucken lassen. Jetzt ist es jedes noch so kleine Piepen, das dich erschrecken lässt, denn du musst wachsam sein. Du musst an die Ode von Kurt Tucholsky denken, Augen in der Großstadt: Es kann ein Feind sein, es kann ein Freund sein, es kann im Kampfe dein Genosse sein. Du weißt nicht, wem du trauen kannst. Schon öfter ist dir die Metapher des Zoos in den Sinn gekommen. Ihr seid weggesperrt aus eurer bekannten Umgebung, abgeschottet von allem, was euch lieb ist. Die Gesellschaft schaut zu, ist begeistert. Sie liebt Sensationen. Zur Schau gestellt, dabei vergisst sie, dass Leben hinter den Gittern stecken. Gescheiterte Leben. Glaubt sie, die Wesen hinter den Stäben hätten sich ihr Leben so vorgestellt, geschweige denn gewünscht? Manche sind weggesperrt, weil sie eine Gefahr wären, andere wurden dazu gezwungen, sich gegen die Umstände zu stellen, sich zu rächen und dann die Konsequenzen ihres Verhaltens zu tragen. Diesmal ist es das letzte Klopfen, das du in diesem Gefängnis hören wirst. Es sind die Wärter, die dich nach draußen eskortieren sollen. Du beendest deine Routine und läufst mit den Wärtern den langen dunklen Flur entlang.
Sonnenstrahlen kitzeln deine Haut. Mit zitterndem Körper stehst du vor dem Tor, das dich in die Zivilisation zurückführen wird. Mit einem Mal wünschst du dir, der Tag wäre noch nicht gekommen. Denn aus der Vermutung wurde nun traurige Gewissheit: Niemand ist da. Keiner ist gekommen, um dich abzuholen, zu feiern, dass du endlich wieder frei bist. Keiner hat auf dich gewartet und du weißt auch, dass keiner auf dieser Welt darauf wartet, dass du nach Hause kommst. Du spürst Tränen in deinen Augenwinkeln, aber das liegt sicherlich nur an dem Licht. Eine tiefe sonore Stimme dringt in dein Ohr; Floskeln und einen guten Start ins neue Leben. Dieser Satz lässt etwas in dir aufblitzen. Eine Erinnerung daran, wieso du überhaupt hier gelandet bist. Du hast das Gefühl, etwas in deiner linken Hand pulsieren zu spüren. Doch du weißt, dass das nicht sein kann. Denn was du hältst, wird nie wieder lebendig werden. Mit einem lauten Quietschen öffnen sich die Türen und nun steht dir nichts mehr im Weg. Du kannst einfach gehen. Doch du bleibst wie angewurzelt stehen. In deinem Rücken hörst du gehässiges Lachen, „ob du denn hier bleiben wollen würdest.“ Du ignorierst es. So wie die ganzen letzten Jahre. Du nimmst all deinen Mut zusammen und läufst den steinigen Weg nach draußen. Direkt vor dem Gefängnis ist eine Bushaltestelle. Verlassen sieht sie aus, denn die meisten Menschen, die hier herausspazieren, haben Menschen, die sehnsüchtig auf sie warten. Du hast das nicht. Aber du versuchst, dich nicht von der Welle des Selbstmitleides mitreißen zu lassen und steigst in den Bus. Extra für dich haben sie ihn bestellt. Dass jemand an dich denkt, dieses Phänomen ist eine verblasste Erinnerung aus einer Zeit, in der noch alles gut war. Wie viele Gedanken du dir damals gemacht hast, wie oft du dich über Nichtigkeiten beklagt hast, erst jetzt wird dir klar: es war dein kleines Paradies auf Erden. Bis das Böse aufgetaucht ist und du der Versuchung am Ende nicht widerstehen konntest. Du setzt dich nach ganz hinten. Du möchtest weit weg vom Fahrer sitzen, deine Ruhe haben und dich nicht womöglich auch noch mit ihm unterhalten müssen. Deine Gedanken würden ihn doch nur übertönen. Eigentlich willst du nicht hören, was sie schreien. Aber du kannst nichts dagegen tun. Mit einem leisen Brummen setzt sich der Bus in Bewegung. Du weißt, nun kannst du es nicht mehr vermeiden. Du siehst angsterfüllt auf deine linke Hand. Sie ist zu einer Faust geballt und hält ein kleines Säckchen fest umschlossen. Mit zitternder Hand öffnest du sie vorsichtig und beginnst langsam die Schlaufe zu öffnen, die den Inhalt beschützt. Als du hineinblickst, hast du das Gefühl, dein Herz setzt ein paar Schläge aus. Vorsichtig klaubst du ein kleines quadratisches Bild hinaus. Und dann siehst du sie. Mit Zahnlückenlächeln und großen erwartungsvollen Augen schaut sie dich an. Sanft streichelst du mit dem Daumen über die Grübchen und Tränen fallen auf das kleine Mädchen, das dich anstrahlt. Wie sie es nie wieder tun wird. Du schließt die Augen und drückst das Bild ganz fest an deine Brust. Tränen strömen wie heiße Bäche deine Wangen hinab. Nach einer Weile öffnest du deine Augen wieder und widmest dich den anderen Inhalten des kleinen Beutels. Es ist ein kleiner Zettel, auf dem steht: Verstell dich nicht, alle anderen gibt es schon! Wie ironisch. Dieser Satz kam dir damals, als deine Frau ihn dir gegeben hatte, wie ein Kalenderspruch vor. Jetzt hast du das Gefühl, es steckt viel mehr Wahrheit darin, als du dachtest. Nein, du hast dich nicht verstellt. Und ja, die anderen, die gab es, die deine Familie zerstört haben. Ein Mann. Ein einzelner Mann hat dir an einem Tag alles genommen und nie wieder gegeben. Du weißt bis heute, wie es an der Haustür geklopft hat, du saßt gerade am Esstisch und hast Zeitung gelesen. Plötzlich kam deine Frau verschreckt ins Zimmer, in absoluter Schockstarre, in Begleitung von zwei Polizisten. In diesem Moment sind zahlreiche Filme gleichzeitig vor deinen Augen abgelaufen. Die schlimmsten Horrorszenarien. Keiner hat dir gesagt, dass das mit dem Elternsein einhergehen würde. Die Sorge. Die Sorge um dein Kind, die kleine Version deines Selbst, die Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte. Und gleichzeitig musst du dein Kind früher oder später gehen lassen. Doch dieser Tag war anders. Deine Frau hatte eure Tochter am Morgen in die Schule gebracht und sie sollte auf dem Rückweg von der Nachbarsmutter heimgebracht werden. Aber diesen Rückweg hatte sie nie angebrochen. Nie wirst du die Worte des Polizisten vergessen: Es tut uns sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Tochter Opfer eines Verbrechens wurde. Bum. Mit einem lauten Krachen ist deine heile Welt in sich zusammengebrochen. Du erinnerst dich genau an deine Worte, nachdem du für mehrere Sekunden nach Luft geschnappt und plötzlich wie ein Roboter funktioniert hast: Sagen Sie mir, dass sie lebt. Sagen Sie es mir! SAGEN SIE ES MIR! Doch keiner der Polizisten sagte ein Wort. Du bist wie wild aufgesprungen, zu dem Polizisten gerannt und hast ihn angeschrien, bis er sich erbarmt hat, die Worte zu sagen, die dich bis heute in deinen Albträumen verfolgen: Sie ist tot, unser aufrichtiges Beileid. Ab dann weißt du nichts mehr. Du weißt nur, dass du deine Frau aufgefangen hast. Bis du auch sie verloren hast. Eines Morgens war sie einfach fort, hat den Schmerz nicht ausgehalten und hat dich verlassen. Die letzte Verbindung zu deiner Tochter gekappt. Der Bus fährt über eine Schwelle und versetzt dich zurück in die Realität. Es kommt dir noch immer unwirklich vor. Wie ein Fiebertraum, aus dem du nicht zu erwachen scheinst. Er musste sterben. Er, der deine Tochter entführt und kaltblütig ermordet hat, um sich dann mit dem Auto mitten auf eine Landstraße zu stellen, eine Zigarette zu rauchen und dabei die Leiche deiner Tochter zu betrachten. Er musste sterben. Niemals im Leben hättest du dir vorstellen können, ein Leben auszulöschen. Nein, so ein Mensch wärst du nicht. Doch dann bist du damals noch einmal in das Kinderzimmer deiner Tochter gegangen. Der Rollladen hing noch auf Halbmast und Sonnenstrahlen bahnten ihren Weg durch die Schlitze. Das Bett war gemacht und würde nie wieder benutzt werden. Ein halbvolles Wasserglas stand auf dem Nachttisch und die Kuscheltiere warteten darauf, geknuddelt zu werden. Du liefst zum Bett und atmetest ein letztes Mal den Duft deiner Tochter ein. Als du das Zimmer verlassen wolltest, fiel dein Blick auf die Markierungen am Türrahmen, wie viel sie schon gewachsen ist. 1,27 m. Weiter durfte die Skala nicht reichen, weiter durfte sie nicht wachsen. In dem Moment kam der Entschluss. In den folgenden Tagen hast du alles in Gang gesetzt, um den Plan in die Tat umzusetzen. Wieder eine Schwelle und dein Säckchen fällt auf den Boden. Abrupt springst du auf und öffnest es sofort. Scherben. Ob es vor allem die Scherben des kleinen Engels sind, den du mit deiner Tochter zusammen bunt angemalt hast oder die endgültige Erkenntnis, dass dein Leben in Scherben liegt und dich nichts mehr hält, dich erzittern lassen, weißt du nicht. Du packst deine Sachen, rufst zum Busfahrer, dass du hier raus möchtest, der Busfahrer stutzt, ihr seid mitten auf der Brücke, gehorcht dir aber. Es ist ihm wohl völlig egal, was du vorhast. Du steigst aus, läufst zum Geländer und atmest die kühle Luft ein. Du fragst dich, wo das eigentliche Gefängnis ist. Hinter den Gitterstäben, oder in einer Welt gefangen zu sein, in der es keinen Weg zurück in die Vergangenheit gibt. Doch dein Verstand ist plötzlich ganz klar. Es hat auch einen Vorteil, wenn man alles verliert, was einem Halt gegeben hat. Es hat auch einen Vorteil, in die Tiefe zu stürzen und sich ins Nichts zu verlieren. Der Weg führt nach oben. Du weißt nicht, wie, und wohin er führen wird, aber es wird einen Weg geben. Ein letztes Mal blickst du in deine Hände, die verkrampft die letzten Erinnerungen an dein vergangenes Leben halten – und lässt los. Losgelöst fallen sie in die Tiefe und verschwinden schließlich in den dunklen Wassermassen unter der Brücke. Frei. Das bist du nun und das soll auch deine Tochter sein. Du musst sie loslassen. Tränen mischen sich zu dem Wasser des Flusses. Jetzt ist sie frei und du musstest sie gehenlassen, um selbst weitergehen zu können. Irgendwo da draußen, denkst du dir, irgendwo da draußen bemalen wir kleine Keramikengel bunt. Doch dieser Tag, er ist nicht heute.