Landau liest ein Buch
ein Buch wird zum Stadtgespräch

3. Platz

Gabriele Korn, Kaiserslautern

Draußen

Ralfs Zähne graben sich in den Kuchen. Ich warte auf ein Lächeln. Vergeblich.
Mein Mann spuckt einen Kirschkern auf seinen Teller. „Es schmeckt irgendwie...mehlig“, murmelt er.
„Verdammt, da ist Mehl DRIN. Ich kanns halt nicht besser“, schreie ich lauter als ich will und renne in den Garten.

Starre auf das Panorama der Alpen vor mir, schroffe Gipfel, in den Schluchten weiße Schneerinnen, Muster wie das Fell eines riesigen Zebras, das sich hierher verlaufen hat. Wie ich. Tief durchatmen. Ralf tappt auf die Terrasse und legt mir die Arme um die Schultern.
„Schatz, ich geh wieder in die Schule. Muss noch die Konferenz vorbereiten.“

Ich sage nichts. Klar, mein Mann muss supertüchtig sein. Alle passen auf, wie sich der neue Schulleiter macht. Wer jahrelang woanders gelebt hat, ist für die Bayern ein Fremder, auch wenn er vor 45 Jahren hier geboren ist.

Und erst recht ich, das Nordlicht, ein Irrlicht in den Augen meiner Nachbarinnen. Anstatt jeden Nachmittag zu jäten und Kinder zu bewachen, sitze ich mitten im Unkraut in einem Liegestuhl und lese. Kein Wunder, dass ich ihnen suspekt bin.

Ralf träumt von einer Kaffee-Einladung an seine Kollegen und ihren Anhang. Leider kann ich nur Schoko-Muffins. Seit Tagen übe ich Kuchenbacken nach Online-Rezepten, Kategorie „Zubereitung sehr einfach“. Meine Produkte sind bisher entweder zu schwarz, zu trocken oder sie fallen einfach in sich zusammen. Wie mein Ego.

Mein Textatelier läuft auch noch nicht. In Kiel hatte ich mir einen festen Kundenstamm aufgebaut. Aber in Kiel war Ralf nur Oberstudienrat... Und er wollte unbedingt wieder in seine alte Heimat. Viele Bewerbungen durchkämpfte er, bis es klappte mit der Schulleiterstelle in Bayern.

Mein Blick streichelt das Foto mit Segelbooten und Strandkörben. Mir fehlt der Küstenwind, der Literaturclub. Die Treffs mit meinen Freundinnen. „Moin“ zur Begrüßung.

Jammern hilft nichts. Ich habe eine Aufgabe. Ralf braucht neue Kopfschmerztabletten. Eine passende Mittagsbeschäftigung für die Frau Schulleiter. Immerhin hat das Dorf eine Apotheke. Für 5000 Einwohner und angeblich 250.000 Feriengäste im Jahr zum Wandern und Skifahren.

Frau Klaffl ohne e zupft nebenan Unsichtbares aus ihrem makellosen Rasen. Mein „Grüß Gott“ prallt an ihrem Rücken ab. Ich schmeiße das Gartentürchen hinter mir zu.

Eine Kirche aus dicken Grausteinen duckt sich zwischen die Häuser mit Holzbalkonen und gemalten Alpenrosen. Ich schlendere durch die Gassen, die sich wie steinerne Schlangen um die Kirche winden.

Der Apotheker trägt eine Krawatte, auf die ein Hirsch gestickt ist. „PfüatEana“, sagt er, als er hinter mir abschließt. Klar, es ist Mittwoch, Apotheke ab 14 Uhr zu. Wir sind auf dem Land.

Die Sonne spuckt Lichtstreifen und Sommersprossen auf meine Nase. Ich schnüre meine Wanderschuhe und packe den Rucksack. Muss raus.

Der Wald ist dunkel, ich rieche Fichten. Ein Specht trommelt einen kurzen Begleitmarsch. Ich bleibe am Wasserfall stehen, sehe wilden Nixen zu, die ihre langen weißen Locken bürsten.
Wege finden, die nicht markiert sind, in kleinen Schritten nach oben, im Vertrauen auf meine Kraft, die Sonne, meine Intuition. Wenn nichts mehr hilft, auf die Karte.
Pause vor einer verlassenen Almhütte, ich schnuppere den Duft von getrocknetem Holz und Wildkräutern. Wie lecker schmeckt Quellwasser zu Fladenbrot mit Schinken.
Ein Grashalm streichelt meinen Arm. Ich schließe die Augen mit dem schönen Gefühl, ganz unbayerisch alleine zu sein. Bis ein Geruch nach Rauch meine Nase ärgert. Ich springe auf und platziere vor Schreck meinen linken Fuß in einen riesigen Kuhfladen.
Ein paar Meter entfernt steht der Apotheker, Pfeife im Mund. Mit Grasbüscheln und Ästchen kratze ich die Pampe von meinem Schuh. Ich lasse den Mann im delikaten Aroma aus Tabak und Kuhscheiße zurück und haste davon.

Eine Stunde steiler Anstieg, vor mir jetzt auch noch Schneefelder. Von weitem sehen sie aus wie angeschmutzter weißer Samt. Der sanfte Anblick trügt. Manchmal sacke ich ein bis zu den Knien. Mühsam, die Beine wieder hochzuziehen.
Dann über Felsen hoch klettern. Schweiß im Nacken. Die Riemen des Rucksacks schneiden in meine Schultern. Nasse Füße vom Schneestaksen. Oben das Gipfelkreuz. Scheinbar gar nicht mehr weit. Mut. Nur noch ein paar Meter. Was will ich mir eigentlich beweisen?
Letztes Hochziehen über die Felsplatte. Ein schmaler Weg über den Kamm führt zum Kreuz. Dort sitzt der Apotheker und kaut. Winkt mir, als ob er mich erwartet hätte. Ich resigniere.
Muss mich ausruhen. Unter uns steigt Dunst langsam höher. Es ist still. Ein kleiner See, hoffnungsgrün und klar. Wolken wie Kaninchenflaum am Himmel. Ein Augen-Blickes-Rausch.
„Der Ausblick ist wunderbar“, rutscht es mir raus.
„Da kann die Ostsee nicht mithalten, oder?”, lästert er. „Und, schon eingelebt?”
Natürlich, hier weiß jeder alles über jeden. Am liebsten würde ich mich in
meinem Wanderstiefel verstecken.
„Bayern in den Ferien fand ich immer ganz schön. Bier und Weißwürste, alle weiß-blau rautierten Klischees für zwei Wochen, ok. Aber immer…”
Schweigen.
„Ich hasse Schweinshaxn und Dirndl. Jetzt dirigiert mein Mann in der Schule auch noch eine Blasmusikkapelle. ER ist begeistert...”
Die Sonnenbrille versteckt die Tränen in meinen Augen.
Verdammt kalt hier.
Er bietet mir Milchkaffee aus seiner Thermosflasche an. Sogar noch heiß. Der Kaffee blubbert in meinem aufgeregten Magen, der sich vor dem Abstieg fürchtet. Meine Muskeln träumen von einer Sänfte. „Oben geblieben ist noch keiner“, grinst er. „Oder sehen S’ hier einen?“
Er kennt den Weg ins Tal, sucht trittfeste Stellen, reicht mir manchmal die Hand. „Madl, Sie bleiben Sie selbst, sogar wenn Sie einen Jodelkurs belegen”.
Sein Blick ist Spott, sein Griff ist Trost.
Ich balanciere einen Schritt vor den anderen. „Genau so machen S’ des. Sie gehen Ihren Weg, und manchmal geht jemand mit”, sagt er. „Wird schon. Ich bin übrigens der Max.”
Weiche Pfade durch Wiesen, bunt gesprenkelt, mit lila Krokussen und Löwenzahn, blauem Schusternagel.
Change is no choice. Change happens. Stammt aus irgendeinem Film.
Er bringt mich bis zur Straßenecke. „Meine Frau mag auch lieber Klassik als Musikantenstadl“, sagt er. „Wir rufen mal an.“
Ralf plaudert mit Frau Klaffl über den Zaun.
Seine Umarmung riecht nach Heimkommen. Fühlt sich wind- und wetterfest an wie eine gute Jacke.
„Du warst wandern?“, wundert er sich. „Mit dem arroganten Griesgram? Glückwunsch.“
„Vorstufe zu den Landfrauen“, sage ich. „Sie haben mich eingeladen. Ich soll meine Textarbeit vorstellen.“
Ralf strahlt. „Sie backen auch zusammen Kuchen. Du könntest ...“ Ich widerstehe dem Impuls zu schreien und grinse. „Weiß was Besseres: ich mache ein Herings-Büffet, wenn deine Kollegen kommen.
„Wege finden, die nicht markiert sind. In kleinen Schritten. Change is no choice.
Wird schon.