Landau liest ein Buch
ein Buch wird zum Stadtgespräch

2. Platz

Ulrike Grömling, Speyer

Mal wieder draußen

Tom genoss seine Routine. Wie immer kroch er gegen neun Uhr aus dem Bett, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und rutschte mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf den abgewetzten Stuhl. Vor ihm lag der Laptop, das Tor zu einer Welt aus Bits und Bytes, in der er sich zu Hause fühlte.
Als IT-Support-Mitarbeiter nahm er Anrufe entgegen, löste Softwareprobleme und holte hin und wieder einen Server aus dem Koma. Die seltenen Besprechungen mit Kollegen beschränkten sich auf technische Details. Wartezeiten zwischen zwei Tickets überbrückte er mit schnellen Runden Pixel Battle, seinem Lieblingsspiel. Mit Phantom2000 lag er im ständigen Wettstreit um den Highscore.
Kontakte pflegte Tom schon lange nicht mehr. Was er benötigte, bestellte er beim Lieferservice oder im Internet. Seine Nachbarn kannte er nicht, dafür alle Serienhelden auf Netflix.
Manchmal fragte sich Tom, ob sein Leben so verlief, wie er es sich wünschte. Aber dann trank er noch einen Schluck Kaffee und schob den Gedanken beiseite, wie er es immer tat. Warum sollte er etwas ändern? Keine sozialen Verpflichtungen, kein Stress. Seine Welt war in bester Ordnung.
Gerade als er ein besonders kniffliges Level spielte, das ihm den ersten Platz vor Phantom2000 sichern sollte, vibrierte sein Handy. Widerwillig griff er danach und öffnete die Nachricht. Ihre Sendung konnte nicht zugestellt werden und liegt zur Abholung in der Paketstation 538 bereit, stand dort geschrieben.
Genervt verdrehte Tom die Augen. »Unfassbar!«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich wette, der Paketbote hat nicht mal geklingelt. Wenn Faulheit brummen würde, hätte ich es gehört!«
Für Tom war die Sendung mehr als nur irgendein Paket. Sie enthielt die allerneusten In-Ear-Kopfhörer, ein Spitzenmodell, das Tom nach tagelanger Recherche und dem Lesen endloser Rezensionen bestellt hatte. Dieses hochpreisige Gerät sollte ihm endlich die klangliche Erleuchtung bringen, von der er schon lange geträumt hatte. Allein bei dem Gedanken daran kribbelte die Vorfreude in seiner Brust. Er wollte es haben, und zwar sofort.
Mit einem tiefen Seufzer öffnete Tom Google Maps und ließ sich den Standort der Paketstation anzeigen. Die künstliche Intelligenz berechnete die Route und ließ ihn wissen, dass er sein Ziel zu Fuß in zwanzig Minuten erreichen konnte.
»Auch das noch«, brummte er, zog sich die dicke Jacke und die Pudelmütze über und verließ zum ersten Mal seit Wochen die Wohnung. Es war wärmer als erwartet. Die Winterkleidung hätte er sich mit einem Blick auf die Wetter-App sparen können.
Auf den Straßen herrschte hektisches Treiben. Das Hupen der Autos vermischte sich mit dem Kreischen der Straßenbahnbremsen, und der Lärm der vorbeifahrenden Lastwagen dröhnte in seinen Ohren. Aus einer Konditorei strömte der Duft von frischem Kaffee und verband sich mit schwerem Abgasgeruch. Menschen wuselten umher wie Ameisen.
Für Tom, der den Orientierungssinn eines blinden Huhns hatte, war es längst zur Gewohnheit geworden, mit dem Smartphone in der Hand durch die Straßen zu laufen und sich den Weg anzeigen zu lassen. Kurz vor dem Ziel wartete er inmitten vieler Fußgänger vor einer Ampel. Aus Sorge um sein Handy steckte er es hastig in die Jackentasche. Da rempelte ihn plötzlich ein Passant an. Tom taumelte, und es gelang ihm nur mit Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Bevor er den Unbekannten zur Rede stellen konnte, war dieser bereits wortlos in der Menge verschwunden.
»Genau deshalb bleibe ich lieber zu Hause«, murmelte Tom verärgert.
An der Paketstation angekommen, griff er in die Tasche, um das Handy herauszuholen, doch sie war leer. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Hektisch suchte er jeden Winkel seiner Kleidung ab, fand aber nichts. Sein Herz setzte für einen Moment aus.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie er und durchsuchte panisch erneut jede Tasche. War ihm das Handy gestohlen worden, oder hatte er es verloren? Seine Gedanken rasten, und ein eisiger Schauer lief ihm den Rücken hinunter.
Vielleicht lag es noch in der Nähe der Kreuzung. Tom rannte los. Überquerte eine Straße. Nahm eine Abkürzung. Folgte dem Weg, der in einem großen Bogen verlief. Kam in eine menschenleere Gegend, die ihm völlig fremd war. Es dauerte eine Weile, bis Tom begriff, dass er sich verlaufen hatte. Unbewusst wühlte seine Hand in der Jackentasche, um Google Maps zu öffnen, bis ihm wieder einfiel, dass das Smartphone verschwunden war.
Keuchend blieb Tom stehen. Seine Gedanken kreisten wie ein Zyklon um den Verlust. »Warum habe ich nicht besser aufgepasst? Ohne das verdammte Handy und diese bescheuerte App komme ich nicht an mein Paket«, fluchte er vor sich hin.
Er rief sich selbst zur Ordnung. »Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren! Ich sollte bei einer Tasse Kaffee in Ruhe die Lage überdenken.« Zielstrebig ging er auf das nächste Café zu. Erst als sich die Türen automatisch öffneten, wurde ihm schlagartig bewusst, dass er kein Bargeld dabeihatte. Normalerweise war das kein Problem, er nutzte immer die Bezahlfunktion seines Smartphones. Doch heute war alles anders. Tom kehrte auf dem Absatz um.
Lange überlegte er, wen er anrufen könnte, bis ihm klar wurde: niemanden. Denn er hatte kein Handy. Tom fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füssen weggezogen.
Ob ihm wohl jemand sein mobiles Telefon für einen kurzen Anruf leihen würde? Aber welche Nummer sollte er wählen? Er kannte keine auswendig. Musste er auch nicht. Sie waren ja alle auf dem Smartphone gespeichert.
Tom wollte nach Hause, seine Mittagspause endete. Da traf ihn ein Gedanke wie ein Blitz. Vor einem Jahr hatte er ein Smart Lock an der Wohnungstür installiert. Es sollte bequem sein. Kein Schlüssel mehr, nur eine App. Wie hatte der Verkäufer diese Innovation angepriesen? »Sie werden nie mehr einen Schlüssel verlieren!« Nun, das hatte funktioniert. Der Schlüssel war tatsächlich nie verloren gegangen. Der Hausmeister besaß zwar noch einen Ersatzschlüssel, aber der war inzwischen völlig nutzlos. Diese Funktion hatte Tom selbst außer Betrieb gesetzt.
Tom dachte an seine Kollegen. Hatten sie seine Abwesenheit schon bemerkt? Würden sie annehmen, dass er einfach vor dem Bildschirm eingeschlafen war? Schon jetzt konnte er sich ihre verächtlichen Blicke vorstellen, die unausgesprochenen, aber dennoch überdeutlichen Vorwürfe.
Aber das Schlimmste war Phantom2000. Er hatte bestimmt schon den nächsten Highscore geknackt. Wochenlang würde Tom ihm hinterherhecheln und sich die blöden Kommentare ansehen müssen, wie Na, wieder zu langsam, du Loser? Toms Brust krampfte sich zusammen, als hätte sich eine eisige Hand auf sein Herz gelegt.
Er war draußen. Ausgeschlossen. Wie damals, als er ein Kind war und nicht mitspielen durfte. Die anderen Jungen hatten ihn wegen seiner Kleidung ausgelacht. Kein Markentrikot, nicht die richtigen Schuhe. Nur billige Treter vom Discounter.
Da war es wieder. Erneut konnte er nur zusehen, wie die anderen weitermachten. Ohne ihn. Er war mal wieder draußen. Der Kloß in Toms Hals wurde immer größer.
Ziellos lief er bis zum Tor eines ihm unbekannten Parks. Ohne lange nachzudenken, trat er ein und lief über einen schmalen Kiesweg, vorbei an Büschen und alten Kastanienbäumen. Der Duft von Flieder und gemähtem Gras lag in der Luft, ungewohnt süß und beruhigend. Mit jedem Schritt wurde der Lärm der Stadt leiser, und Tom hatte das Gefühl, dass sich die Welt hier langsamer drehte.
Er setzte sich auf eine Bank, die halb versteckt im Schatten eines großen Ahornbaums stand. »Was mache ich hier eigentlich?«, murmelte er und schloss für einen Moment die Augen.
Fröhliches Lachen riss ihn aus seinen Gedanken. Auf dem angrenzenden Spielplatz tobten Kinder. Sie rannten durch den Sand, kletterten auf Gerüste und schrien vor Freude. Ein Ball landete auf dem Spielhaus, zu hoch für die ausgestreckten Hände. Der größte Junge bildete eine Räuberleiter, und ein Mädchen stieg über die gefalteten Hände auf seine Schultern, kletterte aufs Dach und warf den Ball hinunter.
»Die Kinder helfen einander, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt«, flüsterte Tom fast ehrfürchtig. »Pech, dass ich in dieser Stadt niemanden kenne. Abgesehen davon liegt meine Wohnung im zwanzigsten Stockwerk, verdammt hoch für eine Räuberleiter. Und wo Phantom2000 wohnt, weiß ich auch nicht.« Eine Träne lief über seine Wange.
Der Kies knirschte, und Tom horchte auf.
Ein älterer Mann kam langsam näher. Er zog sein rechtes Bein nach und sank mit einem leisen Stöhnen neben Tom auf die Bank.
Gleich wird er mir alles über Bandscheiben, künstliche Hüften und Knieprothesen erzählen, dachte Tom und spannte den Körper an, bereit, so schnell wie möglich aufzustehen.
»Sie sehen aus, als hätten Sie Probleme«, sagte der Rentner.
Überrascht zuckte Tom zusammen. Er drehte den Kopf und blickte in ein freundliches Gesicht mit tiefen Falten und wachen Augen. Tom zögerte, unsicher, ob er antworten sollte. Minutenlang rang er mit sich. Wieder einmal war er der Einzige, dem die richtige Ausrüstung fehlte. Wieder einmal war er der Außenseiter. Schon glaubte er, das Lachen des Fremden zu hören, ein Echo all der Hänseleien, die ihn sein Leben lang begleitet hatten. Aber jetzt kam es auch nicht mehr darauf an. Sollte sich der Alte doch über jemanden lustig machen, der kein Handy besaß.
Laut atmete Tom aus. »Ich habe mein Smartphone verloren«, sagte er mit leiser Stimme. Es klang wie eine Kapitulation, ein Eingeständnis seiner Schwäche.
Der Fremde nickte verständnisvoll. »Ja, das ist wirklich ärgerlich. So ein Ding ist heutzutage das halbe Leben. Aber«, er beugte sich leicht vor und senkte die Stimme, als würde er ein Geheimnis verraten, »zum Glück macht es nicht das ganze Leben aus.«
Tom blinzelte irritiert. Der hatte ja gar keine Ahnung. »Für mich schon«, widersprach er. »Ohne mein Handy geht gar nichts. Ich kann nicht einkaufen, mein Paket nicht abholen und noch nicht einmal meine eigene Wohnungstür öffnen. Es ist eine einzige Katastrophe!«
Der Alte lächelte, als wäre alles in Ordnung. »Verstehe. Aber jetzt sitzen Sie hier. Ganz ohne Handy. Und ich nehme an, die Welt ist nicht stehen geblieben, oder?«
Überrascht öffnete Tom den Mund. Ja, es war seltsam. Die Sonne schien, der Flieder wurde nicht müde, seinen Duft zu verströmen, und die Kinder tobten weiter, als wäre nichts geschehen.
»Ich weiß nicht«, sagte Tom nach einer Pause. »Ich habe alles verloren. Ohne Handy ist alles leer wie ein unbedrucktes Blatt Papier. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich überhaupt noch existiere. Wäre ich bloß nicht nach draußen gegangen.«
»Nenn mich Willi.« Der Rentner wechselte ungefragt zu einer vertraulichen Anrede. »Du meinst, du hast alles verloren? Mein Lieber, ich habe vor zwei Jahren meine Frau beerdigt. Mein rechtes Knie ist kaputt, und mein Gehör ist auch nicht mehr das Beste.«
Tom starrte auf den Weg und fühlte sich plötzlich klein. Wie hatte er übersehen können, dass es schlimmere Schicksale gab als ein verlorenes Handy? In diesem Moment kam er sich vor wie ein Kind, das um einen verlorenen Lutscher weint.
»Also, was machen wir jetzt?«, fragte Willi. »Hier sitzen bleiben und uns selbst bemitleiden? Oder wollen wir mal sehen, was zu retten ist?«
Mit etwas Mühe brachte Tom ein schiefes Grinsen zustande. »Ich bin Tom. Kannst du mir kurz dein Handy leihen?«
Willi schüttelte den Kopf und schmunzelte. »Das wird schwierig. Ich hatte noch nie ein Handy. Aber ich habe ein paar Münzen in der Tasche und die Telefonnummer meines Neffen im Kopf. Der kennt bestimmt einen Schlüsseldienst. Und zufällig weiß ich, wo noch eine Telefonzelle steht, die die Telecom wohl vergessen hat abzubauen.«
Tom lachte laut auf, und der Druck in seiner Brust wich, als hätte jemand einen viel zu engen Gürtel gelöst. Vielleicht, dachte er, ist es gar nicht das Handy, das mir wirklich fehlt. Vielleicht ist mir gerade schmerzlich bewusst geworden, dass ich die Verbindung zu Menschen verloren habe. Und vielleicht ist es genau diese Welt hier draußen, die mir zeigt, wie ich diese Kontakte zurückgewinnen kann.