Landau liest ein Buch
ein Buch wird zum Stadtgespräch

1. Platz

Sarah Klein, Landau-Mörlheim

Meine allerbeste Freundin auf der ganzen Welt

Es ist, als könnte ich fliegen. Nicht besonders hoch natürlich. Aber mich trennen mindestens drei Meter von den Fliesen unter mir. Die Sonne lässt tausende Kubikmeter Wasser poolurlaubsblau leuchten. Das habe ich schon als Kind geliebt. Als wäre ich nicht im Freibad am Prießnitzweg, sondern in einem Hotelpool auf Mallorca. Oder in Thailand. Ich lache auf und verschlucke mich fast. Das waren sicher nicht seine letzten Gedanken. Denn nachts scheint die Sonne nicht.
Ich erreiche den Rand und tauche auf. Meine Schwimmbrille hat keine Tönung und deshalb sehe ich Annabelle, wie sie ist. Sie sitzt auf der Bank am Beckenrand wie eine Barbie, die langen Beine dicht zusammen zur Seite geneigt, nur die Zehenspitzen berühren den Boden. Der Sportbadeanzug, der an den meisten von uns zu klein wirkt, sitzt perfekt an ihrem schlanken, trainierten Körper. Sie sieht aus wie aus einem Strandmagazin, Baywatch, Sports Illustrated.
Ich stemme mich aus dem Wasser, die ersten paar Schritte sind wackelig, wie immer, wenn sich die Schwerkraft meinen Körper wieder einverleibt. Ich gehe zu ihr hinüber. Kurz bevor ich sie erreiche, steht der Trainer auf und geht. Als hätte ich ihn darum gebeten.
„Hallo Annabelle“, sage ich und sie dreht sich zu mir um.
Die großen, rehbraunen Augen. Die vollen Lippen, die leichte Sommerröte auf den Wangen. Als sie mich sieht, verfliegt ihr Lächeln.
„Hey Marie.“
Ich setze mich neben sie auf die Bank, sie rückt ein Stück weg. Gleich wird sie aufspringen und gehen. Als wäre ich abstoßend. Gefährlich. Radioaktiv.
„Kommst du heute Abend auch?“, frage ich.
Annabelle reißt die Augen auf. „Du meinst Michaels Geburtstagsparty?“
Ich nicke. Sie schüttelt den Kopf, als verstünde sie nicht, wieso er mich eingeladen hat. Diejenige, die nur Normalzeiten schwimmt. Deren Bauch dicker ist, als der Sportbadeanzug erlaubt. Diejenige, die seit 21 Tagen nicht mehr dazugehört.
„Mal sehen“, murmelt sie und schaut weg.
„Wir haben doch das Geschenk schon gekauft“, erinnere ich sie. Eine pink-glitzernde Schwimmbrille und dazu passende Badelatschen. Weil wir nicht anders konnten, als wir das in irgendeinem Ramschladen gesehen haben. Das perfekte Geschenk für unseren Lieblingstrainer. Damals, als wir noch beste Freundinnen waren.
Annabelle springt auf. „Vergiss das Zeug“, murmelt sie und geht davon.
Trotz der Hitze wird mir kalt. Früher sind wir nach jedem Schwimmtraining ausgegangen. In die Stadt meistens, oder nach Speyer, manchmal nach Karlsruhe. Nun ist keine Rede mehr davon. Ich schlucke den Schmerz hinunter und sehe ihr hinterher. Diese perfekten Beine, nach denen sich alle Männer umdrehen. Natürlich. Ich mit meinen dicken Oberschenkeln kann da niemals mithalten, selbst wenn ich Tag und Nacht schwimmen würde. Das weiß ich, weil ich es schon mal versucht habe.

Ich bin allein in der Damendusche. Zum Glück, so kann ich weinen, ohne dass mich jemand blöd anschaut. Annabelle war meine beste Freundin auf der ganzen Welt und nun hasst sie mich. Jeder spricht ständig darüber, wie furchtbar es ist, wenn der Partner Schluss macht. Aber niemand thematisiert, wie schmerzhaft es ist, von der besten Freundin abserviert zu werden. Ich war immer auf ihrer Seite. Ihr halbes Leben lang.

Zu Hause packe ich die Glitzergeschenke in eine glitzernde Tüte. Auch die haben wir zusammen ausgesucht. Michael hasst Glitzer und wir wollten uns totlachen darüber. Wenn ich nachher das Geschenk überreiche, wird Annabelle vermutlich noch nicht einmal dabei sein.

Trotzdem gehe ich zur Party. Als ich in Michaels Straße einbiege, scanne ich beide Straßenseiten gleichzeitig nach Annabelles weißem Mini. Aber da sind nur dunkle Autos. Ich stelle meins ab, mittlerweile hat es leicht abgekühlt, knapp unter dreißig Grad. Sommer in der Klimakrise und es macht mich traurig, dass ich nicht mit Annabelle darüber lachen kann. Die leichte Glitzertüte greife ich mit der rechten Hand, die schwere Flasche Wein links und gehe über die Straße zu Michaels Haus. Aus dem Garten dröhnt Partymusik.
Ich gehe durch den Hof, straffe die Schultern und lächele. Ich möchte nicht mehr draußen sein, denke ich, mein Herz sehnt sich so sehr danach, wieder dazugehören und dafür werde ich alles tun.
Etwa zwanzig Gäste sind schon versammelt. Michael ist leicht angetrunken und kommt auf mich zu.
„Marie!“ Alle drehen sich zu uns um. Er grinst unsicher. „Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst.“
Meine Zehen in den Sommersandalen verkrampfen sich.
„Du hast mich doch eingeladen“, murmele ich. Die Röte schießt in meine Wangen.
„Das war vor vier Wochen …“
Ich drücke ihm die Tüte in die Hand. „Haben Annabelle und ich ausgesucht. Es ist nicht ganz ernst gemeint“, fühle ich mich genötigt, ihm das Geschenk zu erklären. „Und ich habe Weißwein mitgebracht, sogar eine große Zwei-Liter-Flasche.“
Er wirkt plötzlich nüchtern. „Stell die am besten in den Kühlschrank.“
Ich eile nach drinnen. Der Kühlschrank ist voll mit Fleisch und Bier. Ich finde keinen Platz mehr für meine Flasche. Stelle sie neben die Salate auf die Theke. An der Wand hängt ein Foto von Christian. In schwarz-weiß. Wie man Tote eben darstellt. Was soll das? Er war erst ein halbes Jahr in unserem Schwimmverein und Michael tut so, als wäre er sein bester Freund gewesen.
Durch die großen Fenster sehe ich die Partygesellschaft. Es ist noch keine sieben Uhr, aber schon wird der Schnaps ausgeschenkt. Michael hat den Grill angefeuert, die Glut leuchtet rot und verbreitet diesen Rundum-Sorglos-Sommer-Geruch. Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund.
Adrenalin überschwemmt meinen Körper, als Annabelle in den Garten kommt. Sie trägt ein weißes, schulterfreies Sommerkleid und rote Sandalen. Die langen Haare offen, das Gesicht ungeschminkt. Sie weiß genau, wie schön sie ist.

„Ich habe ihm das Geschenk schon gegeben“, spreche ich sie an.
„Ich weiß“, antwortet sie und dreht sich weg. Als wäre ich ihr peinlich. Unangenehm. Ich, in meiner XL Jeansshorts, mit meinem geschwitzten Rücken und dem aus Verzweiflung aufgetragenen Make-Up.
„Jetzt warte doch mal“, laufe ich ihr nach, lege ihr eine Hand auf die Schulter, auf die nackte, wunderbar reine Haut.
Sie fährt herum. „Fass mich nicht an!“
Plötzlich ist es still. Alle schauen uns an. Der Schweiß läuft mir aus den Achselhöhlen die Innenseite der Oberarme herunter.
„Marie, was willst du von mir?“ Ihre Stimme ist furchtbar laut. Schrill. Ich wusste nicht, dass sie so klingen kann. „Wieso bist du überhaupt gekommen? Niemand will dich hier haben, merkst du das nicht?“
Mein Gehirn sucht fieberhaft nach Worten.
„Aber ich bin Teil des Teams …“
„Bist du nicht“, mischt sich Michael ein, der neben Annabelle steht. „Du gehörst nicht mehr zu uns. Du bist draußen.“
Die Welt um mich herum dreht sich. Mein Mund scheint voller Watte.
„Wir wissen, was du getan hast“, giftet Annabelle weiter. „Nimm deinen Wein und verschwinde. Für mich existierst du nicht mehr.“
Etwas in mir zerbricht. Tränen schießen in meine Augen, dann gewinne ich die Kontrolle über meinen Körper zurück. Wie ferngesteuert laufe ich in die Küche, nehme die Flasche Wein von der Theke. Die Schwere in meiner Hand holt mich aus meiner Trance. Sie glotzen, als ich durch den Garten gehe. Nach draußen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich im Auto gesessen habe. Als ich wieder zu mir komme, ist es längst dunkel. Die Musik dröhnt immer noch, Stimmen sind zu hören, die Party läuft weiter. Es ist unfair, denke ich, ein Todesfall ist natürlich immer furchtbar. Aber das 21 Tage her. Annabelle hat furchtbar geweint, dabei hat sie Christian doch gar nicht lange gekannt. Wir beide sind seit Jahrzehnten Freundinnen. Und als ihr idiotischer Ehemann sie vor zwei Jahren wegen einer Jüngeren hat sitzen lassen, war ich für sie da. Wir haben alles zusammen gemacht. Sind geschwommen, waren shoppen, sogar zusammen im Urlaub. Erst Mallorca und dann, als er sie ausbezahlt hatte, Thailand. Wir waren alles füreinander und ich war nicht mehr einsam. Mein Leben hätte ich darauf gewettet, dass Annabelle mich niemals verlassen würde. Oder bloßstellen. Ich lache auf. Mein Leben hätte ich wohl verloren.

So sitze ich in meinem Auto. Schweiß an meinem ganzen Körper. Ich bin draußen, weil Christian tot ist. Dabei war er ein Versager, er konnte es nur ausgezeichnet verbergen. Selbst ich fand ihn am Anfang nett. Größer als ich, ein Körper definiert von jahrelangem Schwimmtraining, Grübchen beim Lächeln, drei-Tage-Bart. Oberflächlich höflich.
Bei unserem zweiten Training hat er mich angesprochen.
„Hey, du. Du bist doch die Freundin von Annabelle, oder?“
„Ja genau. Ich bin Marie“, habe ich geantwortet.
„Ist Annabelle Single?“, wollte er wissen.
Da hat es begonnen.
Ich habe aufgelacht. „Als wäre jemand wie sie allein“, war meine Antwort.
Das Strahlen in seinem Blick war vergangen, aber ich habe wohl den Funken übersehen, der überlebt hat. Denn Wochen später wollte sie nicht mehr mit mir nach dem Schwimmtraining ausgehen. Sondern mit ihm.
Ich habe alles versucht, um meine Freundin zu behalten. Aber ich bin nun einmal kein Mann. Sie hat immer gesagt, sie wolle irgendwann einmal heiraten, Kinder bekommen, und zwar bald.
„Meine biologische Uhr läuft ab, Marie.“
Na klar. Genau wie meine, denn wir sind beinahe gleich alt, aber ich bin nicht zu Wort gekommen. „Weißt du, Marie, das ist vielleicht meine letzte Chance.“
Da verstand ich es. Annabelle würde sich mir wegnehmen lassen, es war nur eine Frage der Zeit.
Aber dann ist Christian gestorben. Der Bademeister hat ihn vor 21 Tagen früh morgens im Becken gefunden. Ertrunken, mit über 2 Promille im Blut. Kopfwunde. Die Polizei hat sich zusammengereimt, was passiert sein musste: Betrunken in das Schwimmbad eingebrochen, scheinbar allein. Gestolpert, unglücklich gefallen, mit dem Kopf auf dem Rand aufgeschlagen, dann ertrunken. Ein Unfall. Selbst der beste Schwimmer hat da keine Chance.
Zwei Tage später ist Annabelle in meine Wohnung geplatzt.
„Hast du ihn umgebracht?“
Rot geweinte Augen, blasse Haut, als wäre ihre Welt untergegangen.
„Wie kommst du darauf?“
„Du bist Kassenwart und hast einen Schlüssel zum Schwimmbad“, schluchzte sie.
„Michael hat auch einen. Und du.“
Annabelle hat nur den Kopf geschüttelt. „Du hast Christian Lügen erzählt. Dass ich einen Freund habe. Und selbst wenn nicht, dass ich ihn überhaupt nicht attraktiv fände.“
„So ein Unsinn.“
Sie hat mir nicht geglaubt, hat nicht mit sich reden lassen. Seitdem geht sie mir aus dem Weg. Als wolle sie mich bestrafen.

Annabelle hat keine Beweise. Aber das hat mir nichts genützt, denn sie ist perfekt. Glaubwürdig. Die Vereinsvorsitzende. Sie hat Michael von meiner Schuld überzeugt und zusammen haben sie den restlichen Mitgliedern eingeredet, dass ich ein Monster bin.
Ich verstehe ihre Wut nicht. Ihre Trauer. Ein Kind kann sie sich von jedem Mann machen lassen. Notfalls adoptieren. Eine beste Freundin ist viel wichtiger als irgendein Kerl, der sich verkrümelt, wenn es hart wird. Ich war für sie da. Wäre immer für sie da gewesen.
„Annabelle erwartet dich hinter dem großen Becken.“ Mehr hat es nicht gebraucht, um Christian vor 21 Tagen betrunken nach einer Party abzupassen und in das Schwimmbad zu locken. Ein kleiner Schubser hat gereicht. Ich habe Handschuhe getragen. Völlig unnötig. Damals hatte ich etwas zu verlieren. Heute habe ich schon alles verloren. Draußen tut weh, denke ich. Aber draußen liegt auch Freiheit.
Annabelles weißer Mini steht weiter hinten in der Straße. Sie muss also an meinem Auto vorbei. Die Flasche Wein liegt schwer in meiner Hand. Und so warte ich auf Annabelle, die nicht mehr meine Freundin ist.
Die nie wieder jemandes Freundin sein wird.