Landau liest ein Buch
ein Buch wird zum Stadtgespräch

PLATZ 4:
Dana Fuchs, Eduard-Spranger-Gymnasium, MSS 12

zu: „Aber ich will auch ein Stück von diesem Leben“ (Thomas Hettche: Herzfaden, S. 242)


Ich will auch ein Stück von diesem Leben

 

„Aber, Mama, ich will doch auch so sein wie diese Menschen“, schreit Tina und rennt die Treppe hoch in ihr Zimmer und nimmt verzweifelt ihr Smartphone in die Hand. Hunderte Benachrichtigungen von allen möglichen Social-Media-Kanälen stürmen ihr Handy. Schon wieder sind ihre Lieblings-Influencer gemeinsam im Urlaub und veröffentlichen zahlreiche neue Storys und Beiträge.
Tina erinnert sich daran, wie sie zuletzt mit 12 Jahren in Teneriffa gemeinsam mit ihren Eltern Urlaub gemacht hat, jetzt ist sie 17 Jahre. Traurig blickt sie von ihrem Handy auf zu der Wand und von der Wand wieder auf ihr Handy. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden scrollt sie durch Instagram, dann durch Tik Tok und wieder auf Instagram durch. „Wie können all diese Menschen so perfekt sein, so perfekt aussehen und so viel Geld haben?“Erschüttert legt Tina ihr Handy zur Seite und blickt sich in ihrem Spiegel an. Von oben bis unten, von unten bis oben starrt sie sich an und erkennt auf einmal jede einzelne Pore, jede einzelne Unebenheit in ihrem Gesicht und jedes einzelne Gramm zu viel an ihrem Körper. „Wieso kann ich nicht so aussehen, wieso kann ich nicht so sein? Wieso haben andere so ein tolles Leben, nur ich nicht? Ich will auch ein Stück von diesem Leben!“, denkt Tina und legt sich auf ihr Bett.

Wenige Minuten später ruft ihre Mutter sie zum Essen und Tina geht runter ins Esszimmer. „Hier ich hab´ dein Lieblingsessen gekocht, Spaghetti Bolognese“, sagt ihre Mutter zu ihr. Genervt blickt Tina auf ihr Essen. „Ich dachte wir bestellen Essen.“
Entsetzt blickt ihre Mutter sie an: „Tina, du weißt doch, dass wir zurzeit knapp bei Kasse sind. Wir können es uns einfach nicht leisten, jede Woche Essen zu bestellen. Seitdem du dich die ganze Zeit im Internet herumtreibst, erkenne ich dich nicht wieder. Früher warst du anders.“
Tina wirft ihre Gabel auf den Tisch: „Oh Gott, Mama, komm mir nicht an mit: früher war ich so und früher war ja alles besser. Du weißt nicht wie es mir geht, was ich mache, du weißt gar nichts von meinem Leben - und so soll es auch bleiben.“ Wütend will die Mutter Tina etwas hinterherrufen, diese hat sich jedoch schon in ihrem Zimmer unter der Decke versteckt.

Sie versteht es einfach nicht, weshalb niemand in ihrem Umfeld genauso denkt wie sie und die gleichen Vorstellungen hat. Die einzigen Menschen, die sie zu verstehen scheinen, kennt sie nicht persönlich, sondern ausschließlich aus dem Internet.
So hat Tina vor mehreren Monaten eine Freundin über Social Media kennengelernt, sie heißt Ida, ist 19 Jahre alt und kommt aus Berlin. Die beiden schreiben sich schon seit Monaten, haben sich jedoch aufgrund der Distanz noch nie persönlich gesehen. Frustriert schreibt Tina ihrer einzigen Freundin Ida und erklärt ihre Lage. Sie schreibt ihr, wie schlecht sie sich fühlt und dass sie von zu Hause weg möchte.
Sekunden später schreibt Ida zurück und bietet Tina an, sie in Berlin zu besuchen. Sie ist die einzige Person, die für Tina da ist und verständnisvoll ihr gegenüber ist. Voller Freude sagt Tina ihr zu. Endlich kann sie mit einem Menschen reden, der sie versteht und ihr zuhört.
Jetzt muss sie nur noch ihre Mutter davon überzeugen und sie um Erlaubnis bitten, jedoch weiß sie, dass ihre Mutter sie niemals zu einem fremden Mädchen fahren lassen würde. So überlegt Tina, was sie ihrer Mutter sagen könnte, damit sie zu Ida fahren kann.
„Hmm, ich könnte meiner Mutter sagen, dass ich wieder Kontakt zu Leonie habe, meiner damaligen besten Freundin, meine Mutter mochte sie immer gerne. Ich glaube, dass ist eine gute Idee... zu ihr würde mich meine Mutter sofort lassen.“
Nachdem Tina ihre Mutter über ihr angebliches Vorhaben, zu Leonie zu fahren, informiert hat, stimmt diese nach einigem Hin und Her tatsächlich zu.
Tina geht glücklich hoch in ihr Zimmer, um ihre Sachen für das Wochenende zu packen. Schon morgen würde sie Ida in echt sehen! Diese hat versprochen, sie am
Bahnhof in Berlin um 15 Uhr abzuholen.

„Mama, ich gehe jetzt los. Wir sehen uns morgen früh“, verabschiedet sich Tina am nächsten Morgen.
„Okay, viel Spaß - und pass auf dich auf“, antwortet die Mutter und Tina macht die Tür hinter sich zu.
Sie läuft zum Bahnhof, der circa 15 Minuten zu Fuß entfernt ist von ihrer Haustür. Dort kauft sie sich ein Zugticket und wartet auf den Zug, der zehn Minuten später eintrifft. Tina steigt ein und setzt sich an einen Fensterplatz. Sie holt ihre Kopfhörer raus und spielt ihre Playlist ab.
Nach zwei Stunden Zugfahrt erreicht sie endlich den Hauptbahnhof in Berlin. Ida hat ihr schon geschrieben, dass sie am Gleis auf sie warte.
Glücklich stürmt Tina aus dem Zug und schaut sich um, wo Ida sein könnte. Um sie herum sind hunderte Menschen, die ebenfalls nach etwas suchen. Manche suchen ihre Familie, Freunde oder auch wo der nächste Anschlusszug fährt. Es ist hektisch, es ist voll und dazu auch sehr warm. Nach längerem Suchen findet Tina Internet-freundin Ida endlich.
„Hey, ich bin’s, Tina“, begrüßt sie Ida, während sie ihr die Hand zur Begrüßung hinreicht.
Ida schaut sie von oben bis unten an. Es scheint so, als würde sie jedes einzelne Körperteil von ihr analysieren und jedes einzelne Gramm Fett bemerken und verurteilen.
„Ja, hey, ich weiß, dass du Tina heißt. Wieso bist du erst jetzt da, habe dir doch gesagt wo ich stehe“, antwortet Ida, nachdem sie Tina  mehrere Sekunden von allen Seiten angestarrt hat.
Daraufhin erwidert Tina : „Ich bin noch nie hier gewesen, deshalb wusste ich nicht, wo du genau stehen wirst.“
Ida nickt nur und zeigt mit ihrem Finger zur Rolltreppe.
„Ja, egal, komm wir gehen hier etwas essen. Da ist ein gutes Restaurant im Untergeschoss des Bahnhofes.“
Nun gehen beide zur Rolltreppe und schweigend weiter zu dem Restaurant. Dort angekommen bestellen beide eine Pizza und eine große Cola, viel Gesprächsstoff haben sie nicht. Stattdessen sitzt Ida an ihrem Handy, genau wie auch Tina.
Beide essen und trinken ohne viel zu reden, obwohl sie sich doch eigentlich so viel zu erzählen hätten. Nachdem sie fertig gegessen haben, bezahlen beide getrennt und verlassen das Restaurant.
Plötzlich fasst Ida Tina an ihrer rechten Schulter: „Du, Tina, ich habe jetzt leider noch einen Termin, den ich nicht verschieben kann. Ich habe schon geschaut, der nächste Zug zu dir würde in 15 Minuten kommen... Den kannst du doch sicher nehmen“, bittet sie Tina mit einem aufgesetzten Lächeln. In diesem Moment spürt Tina eine große Enttäuschung. Es ist nicht allein wegen Ida, sondern ihr ganzes Leben ist eine Enttäuschung.
Tina nickt Ida zu, da ihr keine Worte einfallen, die sie ihr entgegnen kann.
Ohne sich zu verabschieden, dreht sich Tina um und läuft zu ihrem Gleis. Sie möchte so schnell wie möglich hier weg, zurück nach Hause. Mit Tränen in den Augen geht sie zuerst zum Ticketautomat und dann zum Zug. Im Zug auf ihrem Platz angekommen realisiert sie, dass alles, was im Internet stattfindet, nicht echt sein muss. Die Freundschaft mit Ida war eine Illusion, die beiden waren nie Freunde, sie haben sich nie wirklich gekannt. Alles, was Menschen auf Social Media machen, so schön wie ihr Leben auch sein mag, kann in Wirklichkeit ganz anders sein. Und das hat auch Tina endlich verstanden.