zu: „Aber ich will auch ein Stück von diesem Leben“ (Thomas Hettche: Herzfaden, S. 242)
Ein Stück von diesem Leben
Es war der erste Schultag nach den Sommerferien. Für mich der schlimmste Tag des Jahres. Ich kam in die 11. Klasse. Endlich Oberstufe. Ich lief unseren Schulflur entlang Richtung Toiletten und da sah ich sie: Vroni.
Sie war das beliebteste Mädchen der Schule. Sie hatte reiche Eltern, immer die coolsten Klamotten, das neuste Handy, konnte sich immer das kaufen, was sie wollte. Vroni und ich waren einmal die besten Freundinnen. Wir machten alles zusammen, erzählten uns jedes Geheimnis und vertrauten uns blind. Sie hatte das perfekte Leben. Und ich wollte immer ein Stück von diesem Leben. Doch nun: Alle mochten sie. Alle - außer mir. Fragt ihr euch jetzt warum?
Am ersten Schultag der 10. Klasse passierte das, womit ich nie gerechnet hätte. Ich ging in die Schule, voller Vorfreude Vroni nach den Sommerferien wieder zu sehen. Die gesamte Aula war voller SchülerInnen. Das Gelächter schallte durch das gesamte Atrium. Alle waren gut gelaunt und freuten sich auf ein neues Schuljahr. Auch ich war bereit dafür und suchte nach meiner besten Freundin. Und da stand
sie. Ich ging auf sie zu mit einem Strahlen im Gesicht. Doch sie sah mich mit abweisendem Blick an und drehte sich um. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich wollte mit ihr reden und sie fragen, was los sei, doch sie ignorierte mich und ging weg. In der Pause versuchte ich es erneut. Ich lief zu ihr und wollte unbedingt wissen was los war, doch sie sagte nur: „Ich will diese Freundschaft nicht mehr.“ Was war
geschehen? Bis vor ein paar Wochen war noch alles gut zwischen uns gewesen. Wir trafen uns täglich und lachten bis wir keine Luft mehr bekamen. Sie kam öfter mal zum Abendessen rüber und amüsierte sich über unsere peinlichen Familien-geschichten, die wir uns beim Abendessen erzählten. Es waren die schönsten Sommerferien aller Zeiten. Und jetzt hatte sie das alles einfach weggeworfen.
So cool, wie sie schon immer war, stand sie am ersten Tag der 11. Klasse mit unserer ehemaligen gemeinsamen Clique im Schulflur und guckte zu mir rüber. Sie hatte es wohl irgendwie geschafft, dass meine anderen Freunde ebenfalls nicht mehr mit mir redeten. Sie tuschelte mit ihren Freundinnen, was ich aus der Entfernung leider nicht verstand, und sofort begannen alle zu lachen. Wahrscheinlich über mich. Scheinbar konnte sie mich nicht mehr leiden. Warum, das wusste ich nicht. Und warum sie unsere Freundschaft beendet hatte, wusste ich auch nicht. Mittlerweile war mir das aber auch egal. Es interessierte mich nicht. Nicht mehr.
Es vergingen nun einige Wochen. Ich teilte mit Vroni zum Glück nur den Biologie-LK. Wir warteten alle vor dem Klassenzimmer auf unsere Lehrerin. Alle standen zusammen mit ihren Freunden. Nur ich stand alleine. Nachdem unsere Lehrerin den Saal aufgeschlossen hatte, setzten sich alle an ihren Platz. Sie informierte uns, dass wir in Partnerarbeit ein Projekt erarbeiten müssten.
Mein erster Gedanke war: „Bitte nicht mit Vroni.“
Unsere Lehrerin zog Namen aus einem Stoffbeutel und las laut vor. „Unser nächstes Team ist ... Vroni... und...“.
Ich betete, dass sie nicht meinen Namen sagte. Doch genau das tat sie. Ich musste mit IHR zusammen arbeiten. Alleine. Ich sah zu Vroni rüber. Auch sie sah nicht sehr begeistert aus.
Nach dem Unterricht ging ich zögernd zu ihr rüber. Sie schien nicht sehr erfreut, mich zu sehen.
„Hey Vroni, ... wollen wir uns... ähh ... vielleicht später treffen, also... um… ähm... an dem Projekt zu arbeiten?“
Noch nie in meinem Leben klang meine Stimme unsicherer.
„16 Uhr bei mir.“ Mehr sagte sie nicht.
Ich nickte ein wenig verwundert und ging nach Hause. 16 Uhr bei ihr. Okay. Schon auf dem Heimweg wurde mir ganz anders. In meinem Kopf tauchten tausende Fragen auf, wie das Treffen ablaufen würde: Wird es komisch? Kann ich vielleicht
herausfinden, wieso sie unsere Freundschaft beendet hat? Will ich das überhaupt wissen? Je näher unser Treffen rückte, desto mulmiger wurde mir. Ich war nervös und hatte zwei schwitzende Hände.
Ich nahm meinen Rucksack, sagte meiner Familie „Tschüss“, schmiss mich aufs Fahrrad und radelte los. Ca. zwanzig Minuten später stand ich vor ihrem Haus. Ich stand dort zwei Minuten, dann fünf Minuten, schließlich zehn Minuten. Ich wollte nicht klingeln. Ich wollte dieses doofe Projekt nicht machen, nicht mit ihr. Ich könnte einfach wieder aufs Fahrrad steigen und nach Hause fahren, dachte ich. Aber eine schlechte Note kassieren wollte ich auch nicht. Also blieb mir wohl oder übel nichts anderes übrig. Ich fasste all meinen Mut zusammen, atmete einmal tief durch und klingelte.
Sie öffnete die Tür und bat mich herein.
„Wo sind denn deine Eltern?“, fragte ich vorsichtig.
„Keine Ahnung. Sie sind nie zu Hause, wenn ich heim komme“, antwortete Vroni.
„Wie? Du weißt nicht, wo deine Eltern sind?“
„Nein, das weiß ich so gut wie nie. Genauso, wie sie nie wissen, wo ich bin. Ist kein Ding, hab´ mich mittlerweile dran gewöhnt“, sagte sie traurig. „Möchtest du was trinken?“
Ich nickte und folgte ihr in die Küche.
In diesem Moment tat sie mir leid. Ich dachte immer sie hätte alles, was man sich wünscht. Ich wollte immer ein Stück von diesem Leben. Von ihrem Leben. Ich dachte immer, ihr Leben wäre perfekt, absolut wünschenswert. Aber irgendwie war ihr Leben ganz anders, als ich dachte. Sie hatte zwar Geld und war beliebt, aber was zählt das schon, wenn die eigenen Eltern sich nicht für dein Leben interessierten?
Mir wurde klar, dass mein Leben schöner war, als ich gedacht hatte. Ich hatte ein Zuhause, jeden Tag etwas zu essen und eine Familie, die mich liebte und der ich wichtig war. Und damit war ich schon reicher als ein Großteil der Menschen.
Und plötzlich machte es Klick.
Ich blickte zu Vroni und schaute sie mit einer Mischung aus Traurigkeit und Zufriedenheit an.
„Was ist?“, sagte sie pampig.
Ich ignorierte ihren unfreundlichen Ton, trat einen Schritt auf sie zu und umarmte sie.
„Was soll das denn?“, sagte sie überrascht und schaute mich prüfend an.
„Ich verstehe dich jetzt. Ich weiß jetzt, wieso du unsere Freundschaft beendet hast. Deinen Eltern ist es egal, wo du bist oder wie es dir geht. Sie interessieren sich nicht für dich und du schämst dich dafür, nicht wahr?“
„Möglich“, antwortete Vroni ausweichend.
„Du hast mich von dir weggestoßen, damit ich das nicht herausfinde. Du wolltest nicht, dass jemand erfährt, dass die >perfekte Vroni< gar nicht so perfekt ist. Aber das ist doch absolut normal. Keiner von uns ist das und das ist auch gut so. Du hättest damals mit mir reden können, anstatt unsere Freundschaft zu beenden. Ich hätte dir geholfen. Wieso hast du das getan?“
„Weil ich mich tatsächlich vor dir geschämt habe“, antwortete Vroni nun ohne zu zögern. „Du warst meine beste Freundin. Wir haben alles miteinander geteilt und wohnten quasi bei der anderen. Doch bei euren Familienessen wurde ich traurig. Ihr saßt alle an einem Tisch, habt euch gegenseitig von eurem Tag erzählt und habt gemeinsam gelacht. Mir wurde immer bewusster, dass ich das nicht hatte und dass
ich das wollte. Ich wollte immer ein Stück von diesem Leben. Von deinem Leben. Und da ich das nicht bekam, habe ich dich weggestoßen. Und das tut mir leid. Im letzten Jahr hab mich so einsam gefühlt ohne dich. Unsere Freundschaft war was ganz Besonderes, und dass ich das aufgegeben habe, bereue ich zutiefst.“
„IST was Besonderes. Freunde?“
„Freunde!“, sagte Vroni und strahlte über das ganze Gesicht. Ich hatte sie in den letzten Wochen noch nie so glücklich gesehen.
Es stellte sich heraus, dass das Leben, von dem ich immer ein Stück wollte, nichts anderes war als eine Lüge. Ich wollte dieses „perfekte“ Leben. Doch nach unserer Aussprache stellte ich fest: Ich hatte schon ein perfektes Leben, für das ich sehr dankbar bin.